Philipp Oswalt | 2000
 
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   'Berlin_Stadt ohne Form' | Automatischer Urbanismus I

Da ohne Tradition und mit schwacher Identität, hat Berlin wie keine andere Stadt die Kräfte des 20. Jahrhunderts absorbiert: erst Monarchie, Weltkrieg und Revolte, dann Faschismus, Stalinismus und Kalter Krieg, schließlich die Auflösung der Ost-West-Konfrontation. Die unbeabsichtigten Nebenwirkungen von politischem, ökonomischem und militärischem Handeln prägten die Stadt. Was Berlin Gestalt gab, waren keine Idealpläne und kein organisches Wachstum. Denn im sich wiederholenden Prozess des Erfindens, Zerstörens und Aufbauens gingen die ursprünglichen Intentionen aller großen Pläne bald verloren. Was Berlin geformt hat, war vielmehr ein automatischer Urbanismus. Wie bei einer mehrfach belichteten Fotografie treten aus der Überlagerung verschiedener Motive neue Figuren hervor. Die einander entgegengesetzten Kräfte erzeugen bis heute ungeplante Strukturen und Aktivitäten, urbane Phänomene jenseits der Kategorien von Städtebau und Architektur. Genau dies ist die Eigenart von Berlin.

Berlin ist eine Stadt der Extreme, eine Stadt ohne Mittelgrund. Ihre unstete Entwicklung wechselt zwischen rasendem Tempo und lähmendem Stillstand. Als verspätete Metropole vollzieht sie in kürzester Zeit, was anderswo Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauert, um anschließend wieder zu erstarren. Episoden von Euphorie folgen Depressionen: vom Jubel beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Niederlage, vom Rausch der zwanziger Jahre zur Weltwirtschaftskrise, von der Machtergreifung der Nationalsozialisten zur Kapitulation, von der Freude über den Mauerfall zur Ernüchterung der neunziger Jahre.

In seiner Wurzellosigkeit schwankt Berlin zwischen nüchternem Pragmatismus und radikaler Ideologie. Ob Industrialisierung oder Historismus, Modernität oder Totalitarismus, Nationalismus oder Kosmopolitismus, Kalter Krieg oder Modernisierung, Massenkultur oder Rebellion: In der Hauptstadt der Ideologien greifen diese ungehemmter um sich als anderswo. Durch die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen entwickelt sich die Stadt zu einem Vektorraum, in dem jedes Regime die Koordinaten, Richtungen und Zentren aufs Neue verschiebt, wie es die Geschichte der Berliner Monumente und Magistralen zeigt.[ 1 ] Gerade weil Berlin stets neuen Ordnungen unterworfen wurde, ist die Stadt ein Manifest von Paradoxien, Transformationen und Instabilitäten.

Der extremen Ideologisierung entgegengesetzt ist der radikale Pragmatismus. Aufgrund fehlender kultureller Kontinuität hat die Stadt gerade bei den abrupten Wachstumsschüben des 19. und 20. Jahrhunderts nur geringe Gestaltungskraft und formenden Widerstand aufgebracht. Diese Haltung erwies sich als Schwäche und Stärke; als Schwäche, weil das neu Entstehende nicht in einen Kontext eingebunden wurde; als Stärke, weil die Stadt eine enorme Vitalität und Offenheit für das Kommende entfaltete. Nach 1900 sah man Berlin als ein 'Amerika im Kleinformat', als ein 'Chicago an der Spree'.[ 2 ] 'Berlin konnte und mußte sich amerikanisieren, weil es an der Entfaltung des wirtschaftlichen Materialismus durch tief wurzelnde Traditionen nicht verhindert wurde, weil es auf dem östlichen Boden seit Jahrhunderten eine Pionierstadt war, ähnlich den Städten der neuen Welt'[ 3 ], schrieb Karl Scheffler 1910 in seinem großen Essay 'Berlin - ein Stadtschicksal'.

Mit der Rede von der Pionierstadt spricht Scheffler die periphere Lage Berlins an. Es lag über Jahrhunderte am Rande der deutschen Kulturzone, in einer unwirtlichen, dünn besiedelten Landschaft an der Grenze zum erst spät kolonisierten Osten.[ 4 ] Noch heute ist die Stadt eine inselhafte Agglomeration in der kaum bevölkerten Mark Brandenburg. Sie ähnelt damit eher einer Stadt in der Prärie oder Wüste wie Calgary oder Las Vegas als einem Knoten in einer urbanisierten Stadtregion wie Paris, London oder Frankfurt am Main. Berlin liegt abseits des europäischen Wirtschaftskorridors, der sich zwischen London und Mailand erstreckt, am Rande zu Mittel- und Osteuropa.

Berlin ist eine Einwandererstadt, die nicht aus sich selbst heraus gewachsen ist, sondern durch den Zustrom von Menschen aus entfernten Gegenden. Am Ende des 17. Jahrhunderts erstarkte es aufgrund der aktiven Anwerbungspolitik Friedrich Wilhelms I., der die Hugenotten aus Frankreich, aber auch Dänen, Holländer, Schotten, Böhmen und Juden willkommen hieß. Im 19. Jahrhundert war es vor allem der Zuzug von Schlesiern, Polen und Russen, darunter vielen Juden, die Berlin zu einer Millionenstadt werden ließen. Der englische Schriftsteller Stephen Spender nannte Berlin 'eine Stadt, in der Tradition ein Witz war.' Und in Bezug auf die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts schrieb er: 'In dieser Stadt ohne allen Stil und Tradition war man sich klar darüber, daß jeder von einem Tag auf den anderen wieder beim Punkt Null anfängt. Die Stärke der Berliner bestand darin, daß sie ein vollkommen neues Leben anfangen konnten - denn es konnte sowieso niemand groß auf etwas davor zurückgreifen.'[ 5 ]

Aufgrund politischer Ereignisse hat sich diese Wurzellosigkeit der Bevölkerung bis heute fortgesetzt. Die Nationalsozialisten ermordeten und vertrieben Hunderttausende aus der Stadt und mit ihnen auch den Großteil der kulturellen Eliten. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs erreichte die Flüchtlingswelle aus dem Osten die Stadt. Bis zum Mauerbau setzte sich die Fluktuation von Osten nach Westen fort. Während der Teilung verließen zwei Drittel der Westberliner die Stadt, während fast ebenso viele Neubürger aus dem Westen zuwanderten. Seit der Umwälzung von 1989 ziehen jährlich über 100000 Menschen aus dem 'Neuen Berlin' fort, während andere von der neuen alten Hauptstadt angezogen werden.

Wie schon früher verstehen sie sich oft als Pioniere. 'Berlin schmeckte nach Zukunft und dafür nahm man den Dreck und die Kälte gerne in Kauf', schrieb Carl Zuckmayer über das Berlin vor 1933.[ 6 ] Trotz seines geschichtlichen Ballasts zieht es auch heute die Menschen wieder an, da es hier noch keine etablierten Strukturen gibt. So kam der legendäre Partyveranstalter Cookie 1992 nach Berlin, weil 'alles offen war; es war hier nicht so niedlich und sauber.'[ 7 ] Und für den Modemacher Jürgen Frisch ist Berlin der 'einzige Ort, der in Frage kam, da er in Hinsicht auf Mode eine Wüste ist.'[ 8 ]

Dank seiner exzentrischen Lage ist es bereit für das Exzentrische. Die städtische Formlosigkeit birgt 'Spielraum für unbegrenzte Möglichkeiten'.[ 9 ] Berlin ist ein Experiment ohne Hypothese. Multiple Identitäten ermöglichen es, das 'Andere' zu absorbieren. Diese Offenheit geht allerdings mit Hässlichkeit einher. Die Stadt ist direkt, bar jeder Gefälligkeit. Sie ruft immer wieder Ablehnung hervor. Ihr fehlt ein Selbstbewusstsein, ein gelassener Umgang mit sich selbst. Sie erscheint wie der Körper eines Masochisten, der sich stets aufs Neue dem Missbrauch, der Zerstörung, Demütigung und Gewalt aussetzt.

So gut wie unbekannt ist in Berlin der Mittelgrund kultivierter Artikulation. Was sich hier äußert, ist entweder extrem kontrolliert oder von vulgärer Unmittelbarkeit. Auf diesem mentalen Terrain entstanden die Formen und Verhaltensweisen der Kälte: die Nüchternheit der Neuen Sachlichkeit, der starre Neoklassizismus der Nationalsozialisten, die ordinäre Härte des Punk, die maschinelle Rigidität des Techno. Spätestens der Erste Weltkrieg machte die Kälte zum Thema von Berlin, ein Gefühl des Unbehaustseins angesichts von Verlust und Leerheit. [ 10 ] Auch die meisten Bauten der neunziger Jahre charakterisiert der erwähnte Mangel kultivierter Artikulation; sie sind entweder extrem kontrolliert oder extrem ordinär.

Berlin ist hässlich, aber intensiv. Seine Qualitäten waren niemals intendiert. Es gibt keine einzige Idee, kein einziges Konzept, keine einzige Geometrie, welche diese Stadt als ganze charakterisieren könnten. Berlin ist der Prototyp einer Stadt, wo das Gegensätzliche koexistiert. Der Filmemacher Wim Wenders sieht Berlin als eine Stadt, die 'dadurch wach hält, dass man nicht wie in anderen Städten in ein geschlossenes System hereinkommt, sondern ständig gerüttelt wird.' [ 11 ]


erschienen in : 'Berlin_Stadt ohne Form, Strategien einer anderen Architektur' | MŸnchen/ New York | 2000
 
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Fussnoten :
[ 1 ] Siehe Alexander Moers: Ein Denkmalasyl in Berlin, Diplomarbeit am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Berlin, Unveröffentlichtes Typoskript, Berlin 2000
[ 2 ] Beispielhaft die Aussprüche des Kunsthändlers Herwarth Halden, des Politikers Walther Rathenau oder des Schriftstellers Kurt Tucholsky
[ 3 ] Karl Scheffler: Berlin - ein Stadtschicksal, Berlin 1910, Reprint 1989, S. 118 f.
[ 4 ] Erwin Anton Gutkind: Urban Development, International History of City Development, Bd. 1, Central Europe, London 1964, S. 418 ff.
[ 5 ] Stephen Spender: European Witness, London 1946, zitiert nach Ian Buruma. Lettre International, Winter 1998, S. 37
[ 6 ] Zuckmayer, Carl: Als wär's ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Wien 1996, S. 313 f.
[ 7 ] Cookie, in: Children of Berlin. Voices, Katalog der Ausstellung des P.S.1 New York, Berlin 1999, S. 16
[ 8 ] Ebenda, S. 20
[ 9 ] Karl Scheffler, wie Anm. 3, S. 19
[ 10 ] Helmut Lethen hat das Phänomen der Kälte in Anlehnung an den Anthropologen Helmuth Plessner beschrieben. Siehe Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994, S. 75 ff.
[ 11 ] Wim Wenders: The Act of Seeing. Essays, Reden und Gespräche, Frankfurt am Main 1992, S. 147