Philipp Oswalt | 2000
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'Berlin_Stadt ohne Form' | Konglomerat

Ein wahres Bombardement von stets neuen Konzepten und Ideologien überformte Berlin im Verlauf der Jahrhunderte. Jedes von ihnen gab der Stadt eine Prägung, doch keines von ihnen war stark genug, ihr eine Struktur zu verleihen. Wie Sisyphos stellte man in einer permanenten heroischen Anstrengung Gesamtpläne auf, die immer wieder an gegenläufigen Kräften, an der Größe der Stadt und ihrer kontinuierlichen Instabilität scheiterten und daher unvollständig blieben. Während einzelne Bereiche Berlins vom Charakter eines Planes oder Ereignisses bestimmt sind, entfalten sich andernorts Zonen der Überlagerung und Durchdringung unterschiedlichster Einflüsse. Hier artikuliert sich, was der Stadt auch als Ganzes wesentlich ist: Im Prozess der Überlagerung hat sich etwas Neues gebildet, das sich nicht auf die Qualitäten einzelner Pläne und Einflusskräfte zurückführen lässt, sondern aus dem Prozess selbst hervorgegangen ist. Die Überlappung der verschiedenen historischen Schichten und Ereignisfelder schuf ein heterogenes Kontinuum, ein Feld von Ambiguitäten, das vielerorts eine geradezu dramatische Qualität aufweist.
Dieses Phänomen findet man in vielen Städten, doch hat es sich in Berlin ungewöhnlich intensiv und radikal entwickelt. Und dies bereits vor den tief greifenden Veränderungen durch Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen. 1930 schrieb Joseph Roth: 'Berlin ist eine junge, unglückliche und zukünftige Stadt. Ihre Tradition hat fragmentarischen Charakter. Ihre häufig unterbrochene, noch häufiger ab- und umgelenkte Entwicklung wird von unbewußten Irrtümern, bewußt bösen Tendenzen gehemmt und gefördert zugleich; gewissermaßen mittels Hemmungen gefördert. Die Resultate - denn diese Stadt hat so viele Physiognomien, daß man nicht von einem Resultat sprechen kann - sind ein penibles Konglomerat; ... eine ordentliche Verworrenheit; eine planmäßig exakte Willkür.'[ 1 ] Während sich die Planer bis heute um Ordnung und Homogenität bemühen und in ihrem ständigen Scheitern die Unordnung noch vermehren, hatten die bildenden Künste bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts diese Eigenart der Stadt erfasst und sie in ihren Werken thematisiert. So zeigen Gemälde wie Ernst Ludwig Kirchners 'Potsdamer Platz' (1914), George Grosz´ 'Metropolis' (1916/17) oder 'Deutschland, ein Wintermärchen' (1918) Berlin anhand dynamisierter, vielschichtiger städtischer Räume. Und in der Zeit zwischen Ende des Ersten Weltkriegs und Untergang des Kaiserreichs erfinden die Berliner Dadaisten die Photocollage. In der Multiperspektivität der Arbeiten von Künstler wie Raoul Hausmann, George Grosz, John Heartfield und Hannah Höch findet nicht nur der Widerstreit gesellschaftlicher Kräfte und politischer Ideologien Ausdruck. Zugleich spiegeln sie das Stadterlebnis von Fragmentierung, Simultaneität und Multiplizität, von Durchdringung, Überschneidung und Überlagerung.[ 2 ] Die unbewusst entstandenen Realcollagen des Stadtraums - etwa das Durchschneiden von Baublöcken durch Eisenbahntrassen oder die Montage von Lichtreklamen auf überkommenen Bauten - wird nunmehr von den Künstlern aufgegriffen und als Konzept entwickelt.
In der Zuspitzung der latenten Themen Berlins scheinen die Künstler und Schriftsteller vorwegzunehmen, was sich in den folgenden Jahrzehnten ereignen soll: die permanente Reorganisation einer stagnierenden Stadt, welche die Ideologien des Jahrhunderts in sich bündelt, absorbiert und hervorbringt. Während die klassische Moderne neben den stadterweiternden Wohnsiedlungen eine Serie von weitgehend unrealisierten stadtchirurgischen Eingriffen wie am Alexanderplatz, am Potsdamer Platz und am Platz der Republik konzipiert, setzt mit den nationalsozialistischen Planungen von Albert Speer eine radikale Reorganisation des gesamten Stadtkörpers ein, die - da sie allesamt unvollendet blieben - die Heterogenität Berlins verstärken. In einer atemberaubend schnellen Abfolge gestalteten die Planungen und politischen Ereignisse die Großstadt ständig um: Achsenkreuz, Autobahnnetz und Kahlschlagsanierung einerseits, Kriegszerstörung, Kalter Krieg und Teilung andererseits. Exemplarisch hierfür sind Situationen wie östlich des Alexanderplatzes, wo Fragmente der Mietskasernenbebauung, Plattenbauten der sechziger Jahre und die neoklassizistische Stalinallee aufeinander treffen. Oder die südliche Friedrichstadt, wo barocke Straßenstruktur, Korridore der Schnellbahntrassen, die halbfertig abgebrochene Kahlschlagsanierung der sechziger Jahre, das Hochhauszwiegespräch über die ehemalige Mauer, die Postmoderne der achtziger Jahre und spekulativer Bürobau der Nachwendezeit zusammen kommen.
Als momentan letzter Versuch zu einer Gesamtplanung setzt das 'Planwerk Innenstadt' von 1997 diese Tradition fort. Gerade wegen seines Strebens nach Kontinuität und Homogenität wird es die Heterogenität der Stadt intensivieren; wenn etwa 'historische Straßen' quer durch Neubausiedlungen geschlagen und mit Elementen einer Straßenrandbebauung gesäumt werden. Oder wenn zwischen den Wohnhochhäusern Fragmente einer 'Blockrandbebauung' eingeführt oder dominante Hochhäuser durch den Rückbau von Straßen und durch neue Randbauten in Hinterhöfe verbannt werden.
In solchen Kontaminierungen zeigt sich ein Prinzip, das sich in dem permanenten Streben nach der Überformung des Vorangegangenen durch alle Epochen der Stadtgeschichte zieht. Das jeweilige Scheitern dieser Versuche und die darin begründete Unvollständigkeit hat zu einer erstaunlichen Koexistenz unterschiedlicher Stadtmodelle geführt. Das Charakteristische an Berlins Heterogenität ist nicht ein bezugloses Nebeneinander von Bauten auf dem neutralen Grund eines Straßenrasters - wie in Tokio oder New York - , sondern ein Flechtwerk sich wechselseitig durchdringender Strukturen. Hier sind Grund und Texturen selber vielfältig. Was zunächst wie ein Unfall der Geschichte erscheint, birgt ungewollte Qualitäten. Für den Soziologen Ulrich Beck deutet das existierende Berlin ein zukunftsweisendes Stadtmodell einer 'Zweiten Moderne' an. Er stellt dem tradierten Modell einer 'Stadt des Entweder-Oder' das Modell einer 'Stadt des Und' gegenüber: 'Dort Trennung, Ab- und Eingrenzung, das Verlangen nach Eindeutigkeit, Beherrschbarkeit, Sicherheit und Kontrolle; hier Vielfalt, Differenz, unabschließbare Globalität, die Frage nach Zusammenhang, Zusammenhalt, die Bejahung von Ambivalenz.'[ 3 ]
Im Stadtbild Berlins werden die Diskontinuität der Geschichte und die Gleichzeitigkeit widerstreitender Kräfte anschaulich. Die Heterogenität der Stadt zeigt den für die Neuzeit charakteristischen Verfall eines einheitlichen Weltbildes; sie verkörpert die Pluralität und die gesellschaftlichen Konflikte. Dank ihrer physischen Präsenz erweist sich die Stadt als einer der wenigen authentischen Orte in einer zunehmend medialisierten Welt, in dem gesellschaftliche Wirklichkeiten sichtbar werden und unmittelbare Erfahrungen gemacht werden können. Insofern hat die Stadt, allen Manipulationsversuchen zum Trotz, ein aufklärerisches Potential. Es bietet die Möglichkeit zur Selbstreflexion der Gesellschaft und formuliert damit eine Basis für eine 'reflexive Modernisierung'. Denn das Nebeneinander unterschiedlicher Strukturen und Formen stellt diese in einen Zusammenhang und relativiert sie. Sie sind nicht mehr absolut; ihre ursprüngliche Bedeutung wird destruiert. Durch die Zusammensetzung entsteht eine neue Bedeutung, die jedoch nicht mehr eindeutig ist.
Die Auflösung einer ganzheitlichen Struktur weist dem Stadtbenutzer eine aktive Rolle zu: Der Zusammenhang zwischen den mannigfaltigen Elementen und Strukturen ist immer wieder neu herzustellen. Die Beziehungen und Bedeutungen des Materials sind instabil und ambivalent. Erst der Betrachter stellt im Alltagsgebrauch die Relationen her. 'Die Ordnungslosigkeit der Zeichen, die Desintegration der Umrisse, das Explodieren der Konfigurationen lädt uns dazu ein, selbst Beziehungen herzustellen,'[ 4 ] schreibt Umberto Eco in seinem Buch 'Das offene Kunstwerk'. So entstehe ein Verständnis von Form als einem Möglichkeitsfeld. Und Eco weist noch auf eine zweite Qualität hin: 'Offene Kunstwerke' bilden keine gesetzten, absoluten Formen, sondern verweisen auf ihre Entstehung. Am Beispiel von Jackson Pollocks Malerei beschreibt er, dass hier zwischen der Gebärde der Herstellung 'und dem Zeichen eine besondere, unwiederholbare Ausgewogenheit herrscht, die durch eine gelungene Verbindung des unbeweglichen Materials mit der formenden Energie zustande gekommen ist, durch ein wechselseitiges Sichaufeinanderbeziehen der Zeichen, das so geartet ist, daß es unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Verhältnisse lenkt, die formale Verhältnisse sind, Verhältnisse von Zeichen, aber zugleich gestischen Beziehungen, Verhältnisse von Intentionen'. Die Formen verweisen auf ihre Entstehung. Oder anders gesagt, die Formen organisieren nicht die Materie, sondern 'die Materialien verweisen auf Kräfte und dienen ihnen als Symptome.'[ 5 ]
In analoger Weise wird der heterogene Stadtraum Berlins erfahren. Die Dramatik des Stadtkörpers verweist auf die widerstrebenden Kräfte, die auf die Stadt einwirken. Die stadträumlichen Gesten brechen unvermutet ab. Was bleibt, sind keine mit Absicht so gesetzten Formen, sondern Spuren von Prozessen wie Zerteilen, Durchdringen, Aufschneiden, Abbrechen, Umhüllen, Deformieren, Verschieben, Verdrehen, Perforieren, Auflösen. Indem die Formen ihren Entstehungsprozess erkennen lassen, erscheinen sie sich nicht als dauerhaft, sondern deuten mögliche weitere Entwicklungen an. Die Stadt erscheint als promiske und zugleich träge Masse: Ständig saugt sie neue Kräfte auf, welche sich in ihr ausformen und zugleich in ihrer Zähheit und Widerspenstigkeit verlieren. Die 'weiche Masse' Stadt wuchert, erstarrt und zerfällt. Ihre Heterogenität ist in sich vielfältig: Es ist eine Mannigfaltigkeit und Durchmischung der Texturen, Typologien und Bauten, eine Vielfalt der wirksamen Kräfte, eine Durchdringung von Stadt und Land, von Intensität und Leere, von Lebendigkeit und Verfall, von Präsenzen, Absenzen und Verweisen.
Diese Masse ist weniger ein traditionelles städtisches Gewebe als eine Art Filz, 'eine Verschlingung von Fasern..., offen und in allen Richtungen unbegrenzt.'[ 6 ] Wie Gilles Deleuze und Félix Guattari darlegen, ist die Konsistenz von Filz beispielhaft für einen glatten, kontinuierlichen und doch heterogenen Raum. Auch im urbanen Geflecht sind Grenzen nicht eindeutig definierbar. Die einzelnen Episoden überlappen und durchdringen sich, durchzogen von Zonen des Undefinierbaren. Der Raum ist entgrenzt. Durch die ungeplanten Kollisionen werden existierende Hierarchien und Ordnungen unterminiert. Spannung tritt verschoben zu den Zentren und Knoten der Struktur auf, verschiebt damit die Aufmerksamkeit, enthierarchisiert den Raum. Die Offenheit und Vieldeutigkeit der Struktur erlaubt die Absorption des unerwarteten Neuen. Und hierin liegt auch die gemeinhin bekannte Hässlichkeit Berlins begründet. Die Stadt widerspricht allen klassischen Schönheitsvorstellungen. Sie sollte daher anders betrachtet werden. Etwa aus der Perspektive des 'pitoresken Blicks', jener Sehweise, die sich in England Mitte des 18. Jahrhunderts aus der unmittelbaren Beobachtung der freien Naturlandschaft entwickelte und eine Kategorie für jene Qualitäten schuf, die sich dem klassischen Schema des Schönen und Erhabenen nicht unterordnen ließen: Rauheit, Irritation, Unregelmäßigkeit, Mannigfaltigkeit, Deformation, Absurdität und Unklarheit.[ 7 ]
Überhaupt hat Berlins Stadtbild Wesenszüge einer Landschaft, wie Siegfried Kracauer 1931 feststellte: 'Man kann zwei Arten von Stadtbildern unterscheiden, den einen, die bewußt geformt sind, und den an anderen, die sich absichtslos ergeben. Jene entspringen dem künstlerischen Willen, der sich in Plätzen, Durchblicken, Gebäudegruppen und perspektivischen Effekten verwirklicht, die der Baedeker gemeinhin mit einem Sternchen beleuchtet. Diese dagegen entstehen, ohne vorher geplant worden zu sein. Sie sind keine Kompositionen, die wie der Pariser Platz oder die Concorde ihr Dasein einer einheitlichen Baugesinnung zu verdanken hätten, sondern Geschöpfe des Zufalls, die sich nicht zur Rechenschaft ziehen lassen. Wo immer sich Steinmassen und Straßenzüge zusammenfinden, deren Elemente aus ganz verschiedenen Interessen hervorgehen, kommt ein solches Stadtbild zustande. Es ist sowenig gestaltet wie die Natur und gleicht einer Landschaft darin, daß es sich bewußtlos behauptet. Unbekümmert um sein Gesicht dämmert es durch die Zeit. Diese Landschaft ist ungestelltes Berlin. Ohne Absicht sprechen sich in ihr, die von selber gewachsen ist, seine Gegensätze aus, seine Härte, seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz.'[ 8 ]
Die Analogie zur Landschaft offenbart jene ungeplanten Qualitäten, die sich klassischen architektonischen Kategorien entziehen. Landschaft ist ständiger Wandlung unterworfen und räumlich nicht abgeschlossen. Sie hat kein allgemeines Prinzip, sondern bildet sich lokal spezifisch aus. Sie ist kontinuierlich und vielfältig zugleich. Sie bildet keine Gegensätze, sondern ermöglicht Koexistenz. Sie ist ein Ort, wo sich Formen und Eigenschaften aller Art entfalten und vermischen können. In der Landschaft formen nicht die Strukturen die Ereignisse, sondern die Ereignisse bilden die Strukturen.[ 9 ]
Hierin liegt auch der Schlüssel für einen neuen Umgang mit der Stadt. Wenn an die Stelle des Urbanisten als Ingenieur der Urbanist als Bricoleur tritt, wird das vergebliche Bemühen des Sisyphos durchbrochen. Dann wird die Struktur nicht anhand von Begriffen und Idealen, sondern - wie bei einem Landschaftspark - aus dem vorhandenen mannigfaltigen Material entwickelt.
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Fussnoten :
[ 1 ] Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger, hrsg. von Michael Bienert, Köln 1996, S. 163
[ 2 ] Wie z.B. bei Moholy Nagys Photocollage für das Bühnenbild für den 'Kaufmann von Berlin' von 1929
[ 3 ] Ulrich Beck: Risiko Stadt - Architektur in der reflexiven Moderne, in: Risiko Stadt, hrsg. Von Ullrich Schwarz, Hamburg 1995, S. 43, 56
[ 4 ] Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt Main 1973, S. 182f.
[ 5 ] Gilles Deleuze, Felix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 659ff., S. 664
[ 6 ] Gilles Deleuze, Felix Guattari: ebenda, S. 659ff.
[ 7 ] Siehe Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten, Köln 1989, S: 71
[ 8 ] Siegfried Kracauer: Berliner Landschaft, 1931, in S. Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo, Berlin 1987, S. 40
[ 9 ] Siehe Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt Main 1968, S. 36

Philipp Oswalt

erschienen in : 'Berlin_Stadt ohne Form, Strategien einer anderen Architektur' | MŸnchen/ New York | 2000
Quelle: http://www.oswalt.de/de/text/book/b_conglom_p.html