Philipp Oswalt | 1994
 
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   'Wohltemperierte Architektur' | Die Architektur intelligenter Gebäude

Reyner Banham unterscheidet in seinem Buch 'the architecture of the welltempered environment' zwei Arten der Raumbildung, die konstruktive und die energiegestützte Lösung. Unser Architekturverständnis ist bisher von der konstruktiven Lösung geprägt: Raumbildung durch massive Konstruktionen, durch Wände, Böden und Decken, die den Einfluss der Umwelt passiv neutraliseren. Intelligente Gebäude und Nomadenvölker bevorzugen hingegen die energiegestützte Lösung: Ein Raum wird durch Energie gebildet, z.B. ein Lagerfeuer, das Wärme und Licht spendet. Die Raumgrenzen sind vage, der Raum in Zonen unterschiedlicher Helligkeit und Wärme differenziert. Die Umwelt wird aktiv moduliert. Der Energiefluß ist steuerbar.

Diese Steuerbarkeit ist die Grundlage der Reaktionsfähigkeit und Veränderbarkeit des intelligenten Gebäudes. Gab es in der traditionellen Architektur zwar variable Elemente für den Sonnenschutz (wie Klappläden, Markisen, Gardinen) und die Innenaufteilung (wie Paravents, Möbel, Schiebetüren), so ermöglicht erst die energiegestützte Haustechnik seit Ende des 19.Jahrhunderts eine grundlegende Wandelbarkeit von Raum und Architektur.

Architektur und Haustechnik

Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert zieht die Haustechnik in das Gebäude ein. Leitungen für Gas, Strom, Wasser, Lüftung, Telefon durchlöchern die massiven Wände und Decken der Häuser. Die Haustechnik bestimmt mehr und mehr Funktion und Raumerlebnis. Die künstliche Beleuchtung verwandelt dunkle Straßen in Vergnügungsboulevards, Aufzüge erschließen der Architektur neue Höhendimensionen, Telefone verschmelzen entfernte Räume miteinander.

Doch all das kümmert die Architekten der klassischen Moderne wenig. Beeindruckt von den grossen Ingenieurbauten des 19. Jahrhunderts interessieren sie sich mehr für die neuen Materialien Stahl, Glas, Beton. Von der Haustechnik fühlen sie sich gestört, durchkreuzen doch deren Leitungen den fließenden Raum in ihren edlen architektonischen Kompositionen. Zur selben Zeit entsteht hingegen in den USA eine Architektur, die in einer gleichermaßen pragmatischen wie kompromißlos-modernistischen Haltung die neueste Haustechnik anwendet und ihre Möglichkeiten für die Architektur erschließt. Mit ihr entstand der neue Gebäudetyp des Hochhauses, möglich geworden durch die Haustechnik. Die unideologische, aber eigentlich radikale Moderne Amerikas wurde lange ignoriert und erst seit 20 Jahren von einzelnen Theoretikern wie Reyner Banham, Manfredo Tafuri und Rem Koolhaas für die Architekturgeschichte entdeckt.

Das amerikanische Hochhaus der 20er Jahre ist der Vorläufer des intelligenten Gebäudes: Unabhängig von der permanenten Konstruktion eines starren Tragskeletts wandelt sich der Innenraum, paßt sich den unterschiedlichen Nutzungen an. 'Der Gebrauch jeder Etage kann nie im voraus bestimmt werden. Die Stahlkonstruktion umrahmt die Ansammlung der Etagen, ohne sich in die inneren Lebensvorgänge einzumischen' (Rem Koolhaas: Delirious New York, New York 1978). Elektrizität, Klimatisierung und Telegraphen konstituieren den Raum. So erscheinen die einzelnen Räume eines Hotels im 80. Stockwerk eines New Yorker Hochhauses von 1909 'zwar auf den ersten Blick konventionell ausgestattet mit Kaminen und Holztäfelung. Außerdem gibt es aber eine Vorrichtung mit je sieben Luftreglern und Thermostaten, die einmal mehr den antipragmatischen, ja poetischen Gebrauch großtädtischer Infrastruktur demonstrieren: A = salzige Luft, B = frische Luft, C = trockene salzige Luft, D = trockene frische Luft, E = medizinisch aufbereitete Luft (gegen Krankheiten), F = Thermostat, G,H,I = parfümierte Luft. Die Regler dieser techno-psychischen Batterien sind der Schlüssel zu einer Reihe synthetischer Erfahrungen, die von hedonistischen bis zu hypermedizinischen reichen. Einige Räume können auf Florida eingestellt werden, andere auf Rocky Mountains. Parfüm und Inhalationsmöglichkeiten eröffnen sogar noch abstraktere 'Reisemöglichkeiten'. Im 100stöckigen Hochhaus ist jede Zelle so eingerichtet, daß jeder auf seine private, existenzielle Reise gehen kann.' (Rem Koolhaas, Delirious New York). Dieser individuell steuerbare Innenraum -Beispiel energiegestützter Raumbildung- stellt das moderne Gegenstück zum Lagerfeuer der Nomaden dar und offenbart die Möglichkeiten einer intelligenten Haustechnik.

Die Architektur der permanenten Konstruktion bleibt von der Haustechnik nicht unberührt. Abgesehen von ihrem Bedeutungsverlust muß sie der Haustechnik auch noch Platz machen, deren Serviceschächte und Leitungen immer größeren Raum einnehmen. Erst Louis Kahn erkennt Anfang der 50er Jahre dieses Problem und entwickelt ein Konzept dienender und bedienter Räume. Für die Haustechnik sieht er eigene, sogenannte 'dienende Räume' vor. Der bediente Raum bleibt frei von technischen Installationen, die Haustechnik selbst kann erneuert und verändert werden. Bei der Yale Art Gallery von 1951-53 versorgt ein zentraler Installationskern die seitlichen Galerieräume über eine Installationsdecke mit klimatisierter Luft und elektrischem Licht. Mit dem Laborgebäude für das Salk Institute, La Jolla, Californien von 1959-65 hat Louis Kahn dieses Konzept weiterentwickelt zu einer sandwichartigen Schichtung alternierender Service- und Nutzgeschosse. Die Servicegeschosse werden durch periphere Servicetürme versorgt und miteinander verbunden, die gut zugänglichen Installationen sind austausch- und erweiterbar. Diese die Nutzgeschosse ringsum umhüllende Schicht aus technischen Installationen erlaubt eine völlig flexible Nutzung der Laborräume.

Das Konzept stellt eine optimale Integration des technischen Service in die Architektur dar. Die klare Trennung dienender und bedienter Räume ermöglicht das Paradox installationsfreier Geschosse mit maximaler Ausstattung. Das Salk Institute ist Prototyp aller heutigen hochinstallierten Gebäude, Grundlage der intelligent buildings.

Hardware und Software

Traditionell war Architektur eine Komposition solider Körper im Raum. Mit dem intelligenten Gebäude tritt neben die 'Hardware' fester Baumaterialien und Konstruktionen die 'Software' der Immaterialien Luft, Klang, Klima, Licht, Information und ihre intelligente Steuerung. Der Raum verwandelt sich über die Zeit, reagiert auf unterschiedliche Umweltbedingungen und Nutzungsanforderungen. Es reicht nicht mehr aus, einen festen Zustand zu entwerfen und mit Grundriß, Schnitt und Aufriß festzulegen. Die Veränderung über die Zeit, ein Programm oder Szenario muß entworfen werden.

In den 20er Jahren begannen Architekten wie Erich Mendelsohn und die Gebrüder Luckhardt über die unterschiedlichen Erscheinungen eines Gebäudes am Tag und in der Nacht nachzudenken. Sie erzeugten durch den Einsatz elektrischen Lichts ein vom Tagbild abweichendes nächtliches Erscheinungsbild des Gebäudes, entwarfen also eine zweiphasige Architektur. Im Gegensatz zur traditionellen Architektur paßten sich nicht bloß einzelne Elemente der unterschiedlichen Tages- und Jahreszeit an, sondern es veränderte sich die Erscheinung des gesamten Gebäudes. Entwürfe wie Mendelsohns Kaufhaus Schocken sind Ausdruck einer neuen Vorstellung von Architektur: Gebäude werden nicht mehr als etwas statisches angesehen, sondern als dynamische Raumkörper, deren unterschiedliche Zustände entworfen werden müssen.

Diese andere Vorstellung von Architektur findet man Ende der 20er Jahre auch bei der Gestaltung von Innenräumen. Le Corbusiers erste Projekte in dieser Hinsicht waren die Wohnhäuser Stuttgart-Weissenhof (1927) und das Maison Loucheur (1929): Tagsüber diente die ganze Wohnung als ein Wohnraum, nachts verwandelten Schiebetüren und Klappbetten den Einraum in mehrere Schlafkammern. So wurde die knapp bemessene Wohnfläche durch dem Lebensrhythmus angepaßte Funktionszuweisung optimal genutzt. Die Wohnung existiert in den zwei Zuständen der Tages- und Nachtphase (ebenso Ernst May mit Anton Brenner, Laubenganghäuser Frankfurt-Praunheim 1927-29 - das Konzept geht auf den Eisenbahnschlafwagen zurück).

Aber den eigentlichen Schritt zu einer 4-dimensionalen Raum-Zeit-Architektur vollzog Corbusier mit dem Philips-Pavillon für die Weltausstellung Brüssel 1959. Dieser Ausstellungsbau ist meines Wissens die erste elektronisch gesteuerte, immaterielle Architektur. Le Corbusier: 'Ich werde keinen Philips-Pavillon bauen, sondern ein elektronisches Gedicht. Es wird sich alles im Inneren abspielen - Ton, Licht, Farbe und Rhythmus. Das Gedicht wird acht Minuten dauern.' Die Architektur ist eine Inszenierung. Corbusier interessiert sich nicht für den Entwurf des Baukörpers, für die 'Hardware' - das überläßt er seinem Mitarbeiter Iannis Xenakis. Er konzipiert die 'Software', die immaterielle Inszenierung des Innenraums. Dafür entwickelt er ein neues architektonisches Entwurfswerkzeug: 'Wie müssen die Befehle erteilt werden? Wir mußten ein Werkzeug erfinden, das die Gedankenübertragung erlaubt. Das Gedicht wurde in Drehbuchalben aufgezeichnet. Es hatte vertikale Kolonnen und die Zeiteinteilung geschah in horizontalen Streifen von je einer Sekunde. So ergaben sich insgesamt 480 horizontale Streifen für acht Minuten. Die Partitur synchronisierte hunderte von Elementen (Reihenfolge, Simultanität usw.).' (Le Corbusier). Die Inszenierung des Raumes verändert sich innerhalb der acht Minuten, aber das Programm ist festgelegt wie bei einem Theaterstück oder einem Film. Im Gegensatz zu einem intelligenten Gebäude ist das Gebäude unfähig zu reagieren. Es ist kein intelligentes Gebäude, sondern sein konzeptioneller Vorläufer: Das automatisierte Gebäude - bereits computergesteuert, aber nicht interaktiv.

Den letzten Schritt zum intelligenten Gebäude vollzog der Freund und Bewunderer Buckminster Fullers, der 'Vater' von Archigram und dem Centre Pompidou - Cedric Price mit seinem Projekt Generator. 1976 entwarf er den 'Generator' weniger als eine Anordnung von Baukörpern im Raum sondern als eine Software, die die Wechselbeziehung zwischen Nutzer, Standort und vorhandenen Ressourcen regelt. Das Programm ist nicht mehr ein vorbestimmter Ablauf, sondern eine offene Struktur, die auf die Nutzerwünsche reagiert. Die Aufgabe der Architektur ist, dem Nutzer zu dienen und ihm bei seinen Aktivitäten zu stimulieren. Wenn der Computer von einer langen Passivität des Nutzers 'gelangweilt' ist, nimmt er selbstätig Veränderungen im Gebäude vor. Dies ist eine Umkehrung des Konzepts eines automatisierten Gebäudes: Statt Entscheidungsfreiheit und Phantasie der Menschen einzuschränken, wird sie geradezu provoziert.

Wenn man sich heute fragt, wie sich das technische Konzept eines 'intelligenten Gebäudes' auf die Architektur auswirkt, so zeigt sich, daß die hier knapp vorgestellten exprimentellen Entwürfe einer Randentwicklung der Modernen Architektur bereits die wesentlichen Themen einer Architektur des 'intelligenten Gebäudes' aufzeigen. Die aufgeführten Entwürfe waren in ihrer kompromißlosen Modernität und Radikalität meist utopisch und blieben unrealisiert. Heute aber ist mit der techischen Revolution des 2. Maschinenalters das intelligente Gebäude zu einem zentralen Thema der Architektur geworden. Ob die architektonischen Möglichkeiten der neuen Technologien ausgenützt werden oder ob sie hinter einer traditionell-konservativen Architektur verborgen werden, bleibt abzuwarten.


erschienen in : 'Wohltemperierte Architektur' | Hrsg. Philipp Oswalt (unter Mitarbeit von Susanne Rexroth) | Heidelberg | 1994
 
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Exemplarische Projekte :
-Le Corbusier: Philips Pavilon, in: Le Corbusier / Jean Petit, Le poeme electronique, Paris 1960, und Badischer Kunstverein (Hrsg.): Le Corbusier. Synthèse des Arts. Berlin 1986
-Cedric Price: Generator, Fun Palace u.a. in: Cedric Price, Works II, London 1984
-Archigram: Living 1990 u.a., in: Peter Cook: Archigram, Basel 1991
-Richard Rogers Partnership: Lloyds London, in Architectural Review 10-1986
-Norman Foster Associates: Hongkong & Shanghai Bank in: Norman Foster, buildings and projects, Volume 3, Watermark 1989, und Architectural Review, 4-1986

Weiterführende Literatur :
- Banham, Reyner: Die Architektur der wohltemperierten Umwelt. Arch+ 93, Aachen 1988
- Koolhaas, Rem: Delirious New York, New York 1978, 1994