Philipp Oswalt | 1994
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''Wohltemperierte Architektur' | Einleitung

Hoher Energieverbrauch ist einer der wichtigsten Ursachen heutiger Umweltprobleme. Der Betrieb von Gebäuden verzehrt über 40 Prozent des Energiebedarfs der BRD. So benötigt ein gewöhnliches Bürogebäude 400 bis 600 Kilowattstunden pro Quadratmeter im Jahr. Das mit großem Energieaufwand erzeugte Raumklima ist zudem ungesund: Nutzer klimatisierter Räume leiden unter gesundheitlichen Beschwerden - dem sogenannten Sick-Building-Syndrom. Zur Lösung dieser Probleme reicht eine Verbesserung herkömmlicher Bautechnik nicht aus. Eine neue Art, Architektur zu denken, ist notwendig. Ein Haus ist nicht mehr als ein mit technischen Apparaturen ausgestattetes Gehäuse zu begreifen. Das Haus selber ist als Klimagerät zu entwickeln. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Konzepten entspricht dem Unterschied zwischen einem Motorboot und einem Segelschiff. In den 60er Jahren waren die Architekten von der Idee des Außenbordmotors begeistert, als Prototyp fortschrittlicher Technik: 'Mit einem Außenbordmotor läßt sich praktisch jedes schwimmende Objekt in ein steuerbares Schiff verwandeln. Ein kleines, konzentriertes Maschinenpaket verwandelt ein undifferenziertes Gebilde in einen Gegenstand mit Funktion und Zweck.' So Reyner Banham 1967. Ein Segelboot hingegen kommt ohne Motor aus, weil es selbst wie eine Maschine konstruiert ist. Der Rumpf hat einen minimalen Strömungwiderstand, das Segel nutzt den Wind optimal aus und kann unterschiedlichen Windverhältnissen angepaßt werden. Die Passagiere sind Teil des Systems, mit ihrem Gewicht bringen Sie das Boot von der Schräglage ins Gleichgewicht. In gleicher Weise ist das Haus als Klimagerät zu entwickeln, als ein perpetuum mobile, das sich durch die Ausnutzung der vorhandenen physikalischen Kräfte und nicht durch einen künstlichen Antrieb am Laufen hält. Um dies zu erreichen, ist es notwendig, das energetische Verhalten eines Gebäudes genau zu kennen. In den letzten 20 Jahren hat man die Licht-, Wärme- und Luftströme in Gebäuden analysiert. Dabei wurden die Dynamik und die Komplexität des Klimaverhaltens von Gebäuden offenbar. Das Raumklima ist kein statischer Zustand, sondern ein sich ständig änderndes Fließgleichgewicht. Das Haus steht im Austausch mit seiner Umwelt. Es reflektiert, filtert und absorbiert Energieströme, speichert und transformiert sie. Zahlreiche Faktoren wirken zusammen: So wird die Raumtemperatur unter anderem durch Sonneneinstrahlung, Außentemperatur, Gebäudematerialien, Raumform, Lüftung, Abwärme von Menschen und technischen Geräten beeinflußt.

Das klimatische Verhalten eines Gebäudes ist zu komplex, um auf einfache Grundregeln reduziert werden zu können. Es wurden daher Verfahren entwickelt, mit denen das komplexe Verhalten simuliert und geplant werden kann. Klimasimulationen ermöglichen es zu untersuchen, wie sich Umwelt und Nutzung, Gebäudeform,- materialien und -technik auf das Raumklima auswirken. Nach zwanzigjähriger Grundlagenforschung verfügen wir heute erstmals über ein Basiswissen, das das Gebäudeklima kalkulierbar macht wie das Tragverhalten einer Konstruktion. Mit Hilfe von Computersimulationen sind wir in der Lage, Gebäude den natürlichen Energieflüssen optimal anzupassen. Neue Konzepte der passiven Temperierung können entwickelt werden. Durch den Einsatz neuer Techniken in der Planung kann auf Technik im Gebäude weitgehend verzichtet werden. Mit der intelligenten Planung wird das Gebäude selbst zum Klimagerät: Räume werden zu Lüftungskanälen, Fenster und Türen zu Ventilen, Decken zu Lampen und Fassaden zu Heizkörpern. Eine solche Planung setzt voraus, daß das Gebäude von Architekt und Klimaingenieur gemeinsam entwickelt wird. Nur eine enge Zusammenarbeit von Anfang an führt zu Gebäuden, die ein Minimum an Energie verbrauchen und zugleich architektonischen Ansprüchen genügen. Die Zusammenarbeit mit dem Ingenieur engt den Architekten in seiner Entwurfsfreiheit nicht ein, im Gegenteil: Ihm werden keine festen Vorschriften auferlegt, sondern Vorschläge gemacht, wie er natürliche Energieströme zur Temperierung des Gebäudes nutzen kann. Ihm werden die Vor- und Nachteile verschiedener Entwurfsalternativen aufgezeigt, so daß er die Konsequenzen einer jeder Entwurfsentscheidung überschauen kann. Durch die Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur wird das Gebäude wieder in seiner Gesamtheit entworfen und die einzelnen Aspekte des Entwurfs in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit geplant. Das erlaubt nicht nur, Probleme frühzeitig zu erkennen, sondern eröffnet auch neue Möglichkeiten. Positive Wechselwirkungen -Synenergien- zwischen einzelnen Aspekten können entdeckt und ausgenutzt werden. Das Zusammenspiel, das Ineineinandergreifen und die Wechselwirkung der einzelnen Faktoren wird gestaltet. Gestalt, Konstruktion und Klimakonzept werden in eine Gesamtlösung integriert, die aus den spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten der jeweiligen Bauaufgabe hervorgeht. Diese ganzheitliche Betrachtung von Gebäuden führt zu integrierten Klimakonzepten, bei denen das Gebäudeklima durch das Zusammenspiel von Baukörper, Fassade und Haustechnik reguliert wird. In einem solchen integrierten Konzept erhält die Fassade eine völlig neue Funktion: Sie ist nicht mehr eine starre Grenze, sondern ein Vermittler zwischen innen und außen. Sie nutzt die natürlichen Energieströme zur Temperierung des Gebäudes.

Gebäude sind ständig wechselndenden Umwelteinflüssen ausgesetzt. Die Sonneneinstrahlung ist im Winter ein Zehntel so stark wie im Sommer. Tiere wechseln ihr Fell, Pflanzen verlieren ihre Blätter und wir Menschen tragen andere Kleider. Ein Gebäude, das energiesparend ist, muß sich verändern. Es wurden daher Bauteile entwickelt, die durch die Veränderung ihrer energetischen Eigenschaften die Energieströme regulieren. Je nach Bedarf werden die zur Verfügung stehenden Energien reflektiert, absorbiert, transformiert, gespeichert und weitergeleitet. Die heutige Mikroelektronik ermöglicht, daß Gebäude Informationen sammeln, verarbeiten und auf wechselnde Situationen reagieren. Sensoren an der Fassade registrieren Sonneneinstrahlung, Temperatur und Wind. Die Gebäudehülle verändert ihre Durchläßigkeit für Wärme, Licht und Luft. Ebenso wie auf das wechselnde Wetter reagiert ein solch 'intelligentes Gebäude' auf Veränderungen in der Nutzung. Im Gebäude registrieren Sensoren die Anwesenheit von Menschen und ihre individuellen Anforderungen an das Raumklima. Energie wird nur dann eingesetzt, wenn sie tatsächlich gebraucht wird. Das Haus wird zu einem offenen System, das auf Veränderungen in der Umwelt und der Nutzung des Gebäudes dynamisch reagiert. Nach der passiven Temperierung des traditionellen Bauens bis zum Ende des 19.Jahrhunderts, der aktiven Temperierung bis in die 80er Jahre unseres Jahrhunderts zeichnet sich heute das Konzept einer interaktiven Temperierung ab. Während die passive Temperierung vorwiegend auf der Abwehr unerwünschter Einflüsse des Außenklimas beruhte, die aktive Temperierung durch technisch erzeugte Energieströme ein künstliches Innenklima erzeugte, basiert die interaktive Temperierung auf der Verknüpfung von Innen- und Außenklima: Das Gebäude wird durch natürliche Umweltenergien temperiert, die Energieströme werden durch intelligente Steuerung und die in ihrer Durchlässigkeit regelbare Gebäudehülle reguliert.
Grundlegend für dieses neue Klimakonzept ist die Informationstechnologie. Durch die intelligente Planung und Steuerung wird das Haus zu einem technischen Ökoystem, das in einem engen Austausch mit seiner Umwelt steht. Ökologie und Technik sind kein Widerspruch mehr, im Gegenteil: Erst die neuen, sanften Techniken ermöglichen eine ökologische Gestaltung von Gebäuden, eine Wohltemperierte Architektur, die abgestimmt ist auf die wechselnde Nutzung und die sich ändernde Umgebung. Johann Sebastian Bachs 'Wohltemperierte Klavier' sind Klavierstücke für ein gut gestimmtes Klavier, daß in 24 Tonarten gespielt werden kann. Ein Klavier also, das verschiedene Stimmungen annehmen kann. Die Funktionalität wohltemperierter Gebäude hat ihren eigenen ästhetischen Reiz: Sie spielt mit dem Licht, mit Klang und Wärme. Es ist eine Architektur wechselnder Stimmungen.

Das Buch stellt das Konzept einer Wohltemperierten Architektur vor. Die Wohltemperierte Architektur selber gibt es noch nicht. Sie ist im entstehen. Es gibt zahlreiche Ansätze dazu, Konzepte für verschiedene Probleme, aber kaum realisierte Beispiele. Wir stehen heute in einer Zeit des Umbruchs, in der sich eine Synthese verschiedener, zuvor separater, nahezu gegensätzlicher Entwicklungen -ökologisches Bewußtsein, technologische Innovationen und wissenschaftliche Grundlagenforschung - abzeichnet. Die Resultate zwanzigjährigen Forschens und Experimentierens in diesen verschiedenen Bereichen scheinen nun zur Formulierung einer neuen Architektur zu führen. Mit den hier vorgestellten Konzepten ist es möglich, den Energieverbrauch von Gebäuden auf unter 50 Kilowattstunden pro Quadratmeter im Jahr zu senken, ein Bruchteil dessen, was heute üblich ist. Daß diese Möglichkeit genutzt wird, erfodert nicht nur die Bereitschaft der Architekten, neue Planungsmethoden und neue Technologien anzuwenden. Sie erfordert auch eine andere Bauherrenschaft. Heutige Bauherren, oft Investoren, die die Gebäude vermieten und nicht selber nutzen wollen, sind vorallem an einer schnellen Amortisation und kurzfristiger Rendite interessiert. Niedrige Baukosten sind wichtiger als die Senkung der Betriebskosten, da letztere vom zukünftigen Mieter getragen werden. Diese kurzfristigen Interessen der Bauherren stehen im Widerspruch zu den langfristigen Interessen der Gesellschaft nach Senkung des Energieverbrauchs. In gewisser Weise ist der Architekt Anwalt des Gemeinwohls, der die privaten Interessen seines Bauherrens in den gesellschaftlichen Kontext integrieren soll. Er muß sich Gedanken darüber machen, wie er seine Ideen durchsetzen kann. Auch die Siedlungen des Neuen Bauens der 20er Jahre wären nicht enstanden, wenn die klassische Moderne nicht zugleich ein politisches und soziales Programm formuliert hätte. Erst die neuen Bauherren - die Genossenschaften und die sozialdemokratisch regierten Kommunen - realisierten den großen Teil der Bauten der klassischen Moderne. Wenn es heute um die Verwirklichung einer ökologischen Architektur geht, muß in gleicher Weise ein Instrumentarium entwickelt werden, mit der diese in einem marktwirtschaftlich organisierten Bauwesen durchgesetzt werden kann. Den langfristigen, gesellschaftlichen Interessen muß durch höhere Energiepreise und strengere gesetzliche Anforderungen Geltung verschafft werden. Erst so wird das Konzept der Wohltemperierten Architektur in der allgemeinen Baupraxis umgesetzt werden können.
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Philipp Oswalt

erschienen in : 'Wohltemperierte Architektur' | Hrsg. Philipp Oswalt (unter Mitarbeit von Susanne Rexroth) | Heidelberg | 1994
Quelle: http://www.oswalt.de/de/text/book/wa_intro_p.html