Philipp Oswalt und Nikolaus Kuhnert im Gespräch Joachim Krausse | 1991
 
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   Der nichtsimultane Raum

Arch+: Heute ist bei den Architekten ein Interesse für textile Konstruktionen erwacht. Im Gegensatz zu den 60er Jahren, als Leute wie Frei Otto oder Buckminster Fuller Zelte und geodätische Kuppeln als eine Alternative zur klassischen Architektur ansahen,als eine Art Antiarchitektur, versucht man heute, sie in die klassische Architektur zu integrieren. Architekten wie Ron Herron oder Jourda/Perraudin spielen mit unterschiedlichen Raumkonzepten - sie stellen dem ortogonal organisierten Raumkörpern nicht-ortogonale Zelträume gegenüber. Dabei treten die nicht ortogonalen Formen an den Übergängen von öffentlichem zu privatem Raum auf, also bei den Fassaden, Dächern, Eingängen, bei transitorischen Räumen wie Atrien und Passagen. Das Haus wird mit Hilfe unterschiedlicher Häute in Zonen organisiert. Die innere Haut ist ortogonal und massiv, der Raum ist eindeutig definiert. Die äussere Haut ist ein Textil. Sie bildet einen Raum, der nicht fassbar und definiert ist, sondern flexibel und sich erst im Gebrauch herstellt. Die Raumgrenzen beginnen zu oszillieren.

Joachim Krausse: Bei einem mit Textilen überdachten Atrium hat man kaum das Gefühl von einem Innenraum. Die Raumgrenzen sind nicht fassbar, der Raum scheinbar unendlich. Es tritt eine räumliche Inversion auf, der Innenraum wird zum Aussenraum.

Es ist diese Eigenheit sphärischer Räume, ihre scheinbare Unendlichkeit, die sie dann auch geeignet machen für Raumsimulationen. Um die Totalität eines Bewegungsraums zu erzeugen, muss der Guckkasten, die Kammer und der cartesianische Raum mit seinen drei Koordinaten abgeschafft und durch Sphären oder Sphärenschnitte abgelösst werden wie z.B. bei den Fahrsimulatoren für Piloten. Die Geschichte dieser sphärischen Projektionsräume reicht weit zurück, über Buckminster Fullers worldgame, Bauersfelds Jenaer Zeiss-Planetarium, den Dioramen und Panoramen des 19.Jahrhunderts bis hin zu Boullees Newtondenkmal von 1784.

Dieses Denkmal ist eine riesige Hohlkugel, die den Weltraum simuliert und trotz ihrer endlichen Form den Eindruck des Unendlichen erzeugen kann. Die ansich geschlossene und dunkle Hohlkugel hat winzige Öffnungen, die die Sterne nachbilden. Der Helligkeitskontrast ist so stark, dass sich der dunkle sphärische Grund zwischen den Sternen ins Unendliche weitet. Es ist ein scheinbar unendlicher Raum, der nur durch Licht gestaltet und definiet wird. Boulee nennt es eine 'Architektur der Schatten'. Er entwirft das Newton-Denkmal in den Jahren der ersten Ballonflüge. Am 5.Juni 1783 steigt der erste Ballon auf - noch unbemannt. Boullee nimmt Bezug auf diese Erfindung, die wie keine zweite paradigmatisch für die veränderte Wahrnehmung steht. Erschreibt, wenn ein Mensch bei einem Ballonflug in der Unendlichkeit dahintreibt und von der ganzen Natur nur noch den Himmel erblickt, wird er tief erschüttert durch das aussergewöhnliche Schauspiel eines nicht fassbaren Raumes. Es ist diese veränderte Wahrnehmung und das Newtonsche Weltsystem der absoluten Zeit und des absoluten, unendlichen Raums, das Boullee in seinem Entwurf architektonisch umsetzt.

Der erste vierdimensionale Projektionsraum, dessen Projektion also auch die Dimension der Zeit mit einbezieht, ist Bauersfelds Zeiss-Planetarium in Jena von 1922. Bauersfeld sollte ein Modell bauen, das das kopernikanische Weltsystem veranschaulicht und die Bewegung der Himmelskörper künstlich beschleunigt simuliert.Statt wie bis dahin üblich bewegliche Schalen mit aufgemalten Sternenbildern zu bauen, entwickelte er einen beweglichen Projektor. Ein Rundumprojektor, sozusagen ein 4-D Projektor, der den Lauf der Planeten simuliert. Der tragende Gedanke war, die Örter im Raum durch Lichtstrahlen zu definieren. Nachdem Bauersfeld den Projektor entwicklelt hatte, war seine zweite Aufgabe, einen sphärischen Projektionsraum zu konstruieren. Zunächst hatte er an eine Art Zirkuszelt gedacht, doch die importierten Textile waren während der damaligen Inflation zu teuer. Die dann von ihm entworfene Konstruktion war eine doppelte Erfindung: Es war die Erfindung der geodätischen Netzwerkkuppel und der Schalenbauweise.

Das Jenaer Planetarium hatte einen grossen Einfluss auf das Bauhaus. Alle Bauhäusler kannten es. So ist auch Walter Gropius bei seinem Entwurf für ein Totaltheater davon entscheidend beeinflusst worden. Er hatte zusammen mit Piscator eine Ringsumprojektion auf zahlreiche Leinwände und an die Decke vorgesehen, weswegen er dann für das Dach eine Netzwerkkuppel nach dem Bauersfeldschen Vorbild geplant hat. Gropius betonte, wie wichtig die sphärische Überkupplung des Raums für einen totalen Raumeindruck sei, denn nur so könne man Himmel, Sterne und Wolken projezieren.

Arch+: Welches Raumverständnis kommt mit diesen sphärischen Projektionsräumen in die Diskussion?

Joachim Krausse: Der dreidimensionale euklidische Raum wird abgelösst durch das 4-dimensionale Raum-Zeit-Kontinuum, das zuerst von Luftschiffen und U-Booten in die Praxis eingeführt und mit ihnen sinnlich erfahrbar wurde. Luftschiff und U-Boot zeichnen sich gegenüber dem Schiff oder Boot dadurch aus, dass sie ein Höhenruder besitzen, mit denen sie in die Tiefe gelenkt oder zum Aufsteigen gebracht werden können. Somit erschliessen sie eine neue Dimension. Da jede Positionsbestimmung mit Zeitangabe versehen wird, haben wir es bei ihnen mit einer 4-D Wirklichkeit zu tun. Die früheren Fahrzeuge waren nur 3-dimensional, da sie zwar abhängig von der Zeit waren, sich aber nur auf der Fläche bewegten.

Mit dem 4-dimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum ist der Raum nicht mehr homogen, er wird vielfältig. Einsteins Lehrer Minkowski beschreibt dies in seinem Vortrag 'Raum und Zeit' von 1908: 'Von Stund an sollen Raum und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.' In einem vierdimensionalen Bezugssystem 'würden wir dann in der Welt nicht mehr den Raum sondern unendlich viele Räme haben, analog wie es im dreidimensionalen Raum unendlich viele Ebenen gibt.'

Arch+: Welche neuen Arten von Räumen entstehen mit U-Booten und Luftschiffen?

Joachim Krausse: Beim U-Boot ist es das steuerbare Environment, eine abgekapselte, autonome und künstlich gestaltete Umwelt. Alle Beziehungen zur Aussenwelt sind indirekt, sind über Seerohr, Luftschacht, Heizungssystem und Druckausgleich vermittelt.Beim Luftschiff ist es ein Raum, der nicht mehr durch Masse definiert ist, der Begriff des Soliden verliert seine Bedeutung. Es ist das erste Mal, dass eine extrem leichte Inneneinrichtung notwendig wird. Der Raum definiert sich nicht mehr durch Abgrenzung, sondern durch ein dynamische Gleigewicht. Es ist eine atmende Architektur. Regelmechanismen stimmen den inneren und äusseren Luftdruck aufeinander ab, berücksichtigen den Wind und die Sonneneinstrahlung. Es sind die ersten Ansätze für eine intelligente Architektur. Mit dem Luftschiff beginnt auch die wissenschatliche Erforschung des atmosphärischen Verhaltens, die Metereologie und Aerodynamik. Das Luftschiff ist das erste Objekt, wo aerodynamische Formen entstehen, der Zylinder wird von der aerodynamisch günstigeren paraboloiden Form abgelöst. Das Luftschiff ist ein techmisches Paradigma, bei dem Konstruktionen, Materialien und Herstellungstechniken erforscht und entwickelt werden, die später auch in anderen Gebieten Anwendung finden. Buckminster Fuller hat dieses technologische Paradigma für die Architektur entdeckt. Sein 4-D-Haus nimmt Bezug auf den Zeppelin, es heisst auch 4-D-Zep.

Arch+: Die Erkenntnisse aus dem Luftschiffbau wurden bereits bei den Luftschiffhallen angewendet. Die Luftschiffhallen sind die ersten grossen textilen Bauten in diesem Jahrhundert. Ihre Konstruktionen wurden in Windkanalversuchen getestet. Biaxiale Membranprüfungen wurden für die Luftschiffhüllen entwicklet und in den 60er Jahren von Frei Otto in den Zeltbau eingeführt.

Joachim Krausse: Und ebenso ist der Heissluftballon eine Urform Traglufthalle. Er ist eigentlich ein mobiler Pneu. Die Bollonhülle nimmt die Zugkräftee auf, während das Gasvolumen auf Druck beansprucht wird und somit die Druckglieder ersetzt. Die Stütze, die Säule verschwindet, der Unterschied zwischen Tragendem und Getragenem wird aufgehoben.

Arch+:Diese neuen Raumkonzepte künstlicher Umwelten, intelligenter Steuerung und des Raum-Zeit-Kontinuums werden zuerst bei Fahrzeugen realisiert - ohne Zusammenhang zur Architektur. Dort bleiben sie eine Randerscheinung wie das Jenaer Planetarium und das Totaltheater von Gropius, die nicht die architektonische Diskussion bestimmen. Wann ändert sich das, wann werden diese neuen Raumkonzepte bewusst als Thema von Architekten aufgegriffen?

Joachim Krausse: Buckminster Fuller ist der erste, der darauf insistiert, dass mit den technologischen Paradigmen des Luftschiffs ect. ein neuer Raumbegriff einzuführen sei. Der cartesianische Raum mit seinen 3 Koordinaten sei überholt. Er schlägt ein anderes Raummodell - das tetraedisch organisierte - vor. Er sucht verzweifelt nach der vierten Dimension, der Zeit. Zunächst bemüht er sich darum, sich alle baulichen Realisationen in einem Zeitspektrum vorzustellen. Er ist der erste, der ein Haus nicht als dauerhaft ansieht und daher dessen Abbruch oder Demontage mitbedenkt. Er entwicklet ein neues Verständnis des Körperlichen, der Materie. Ich meine damit nicht dieses postmoderne Schlagwort der Entmaterialisierung. Das ist ungenau, eigentlich falsch. Gemeint ist die Gleichsetzung von Energie und Materie in der modernen Physik. Für Fuller besteht die Welt aus energy events - Energiereignissen - , aus Wellen und Strahlen. Das schliesst auch die Materie mit ein. Aber die Körper - the solids - sind weg, und damit die Vorstellung von Solidität. Wir benützen heute noch in der Alltagssprache 'solide' als etwas postiv wertendes, verbinden mit Masse und Gewicht stabil und wertvoll. Für Buckmister Fuller ist diese Vorstellung des Soliden verschwunden. Für ihn sind damit auch die Raumgrenzen der Dächer und Wände verschwunden. An deren Stelle tritt die raumentgrenzende Umhüllung.

Im Gegensatz zu den eindeutig definierten Abgrenzungen von Räumen in soliden Gebäuden gibt es bei Zelten, geodätischen Kuppeln und Netzwerken alle Arten von Durchlässigkeiten. Ein vieldeutiger Raum entsteht. Der Wahrnehmungsraum ist für die einzelnen Sinne des Hören, Sehen, Fühlen, Riechens ect. ganz unterschiedlich. Die sinnliche Wahrnehmung zerfällt in dissoziierte Einzelfunktionen. Aus der Überlagerung entsteht die Vieldeutigkeit. Ein Beispiel dafür ist ein wunderschönes Gewächshaus von Buckminster Fuller, eines seiner ersten geodätischen Konstruktionen. Klimatisch stellt die Raumhülle ein Innen und Aussen her, aber visuell verschwindet sie, weil es Innen und Aussen gleichernmassen Pflanzen gibt und der Raum sich fortsetzt. Die Raumgrenze beginnt zu oszillieren. Die materielle Grenze wird zu einer energetischen, sie wird ephemer, vergänglich. Diese Hüllen haben nichts mehr mit Form zu tuen. Neue Arten der Gestaltung und Gliederung von Räumen werden notwendig, da die Raumgrenzen verschwunden sind. Dies wird zu einer Frage der Innenraumgestaltung, der Inszenierung.

Arch+: Wie kann man einen Raum durch Inszenierung definieren?

Joachim Krausse: Mit der Inszenierung muss die Separierung oder Zusammenführung der sinnlichen Einzelfunktione gestaltet werden, das Sehen, Hören, Riechen, Tasten usw.. Man muss sich mit der Raumwahrnehmung beschäftigen. Psychologen haben untersucht, wie Raum überhaupt wahrgenommen wird. Wenn man einen Raum betritt, atmet man beim übrschreiten der Schwelle unwillkürlich ein und nimmt zuerst den Geruch des Raumes wahr. Das bestimmt die Wahrnehmung des Raumes. Dann tritt das Hörerlebnis ein. Du nimmst den Raumton war - die Atmo, wie die Filmemacher sagen - und zwar unbewusst. Eine Raumgrösse, die vom Auge manchmal schwer zu bemessen ist, bekommt man durch die Atmo, die Akustik sehr gut vermittelt. Sehr wichtig für den Raumeinduck ist auch das Material, auf dem du läufst, die taktile Wahrnehmung mit den Füssen. Danach kommt erst das Sehen. Willst Du einen Raum bestimmen, dann musst Du Dir diese sinnlichen Einzelfunktionen vornehmen. Dabei ist es gar nicht so einfach, einen bestimmten Raum zu reproduzieren. So stellt sich bei Ausstellungen, in denen Wohnungen als 1:1 Modell nachgebaut werden, nie das Raumgefühl ein, weil die Atmo, die Raumakustik nicht berücksichtigt wird.

Arch+: Bei der Schaffung künstlicher Environments macht es die Dissoziierung der sinnlichen Wahrnehmung in Einzelfunktionen möglich, durch die Kombination unterschiedlicher Wahrnehmungsräume für die einzelnen Sinne völlig neue Raumeindrücke zu erzeugen. Wie z.B., wenn man mit einem Walkman durch die Stadt läuft, den freien Himmel sieht und dazu eine in geschlossenen Räumen erzeugte Musik hört. Mit der Inszenierung ist der Raum auch nicht mehr statisch, sondern verwandelt sich ständig.

Joachim Krausse: Wenn der Architekt die einzelnen Kanäle der sinnlichen Wahrnehmung gestalten will, muss er im Grunde Szenarien entwerfen, Szenarie von Handlungs- und Bewegungsabläufen in dem zu gestaltenden Raum. In der Moderne haben sich vorallem Adolf Loos, Josef Frank und Stirnat mit solchen Fragen beschäftigt, indem sie den Raum als Weg auffassten, als Prozess. Der Raum als Prozess lässt sich nur mit Hilfe des Szenarios entwerfen. Man muss aus dem Universum aller Handlungsmöglichkeiten Abläufe herraussuchen, konstruieren, Raumfolgen bilden, Funktionen und Materialien verteilen. Dies hat sehr viel mit der Arbeit von Theater- und Filmemachern zu tuen. Es wäre interessant, an die Raumgestaltung einmal so heranzugehen und die Architektur beiseite zu lassen.

Arch+: Inzwischen interessieren sich zahlreiche Architekten für Inszenierungen. Toyo Ito z.B. arbietet mit einer solchen Entwurfsmethode wie Du sie eben vorgeschlagen hast. Er entwirft erst eine Möblierung, also ein Szenario, und dann die Umhüllung dafür.

Joachim Krausse: Die Architekten haben inzwischen bemerkt, dass ihnen die Inszenierung der Alltagswelt entglitten ist, sie von dem Medien übernommen wurde. Portables, Ghettobluster und Walkman sind Beispiele für Räume, die Du mit Dir herumtragen kannst, die den physischen Raum ersetzen. So definiert der Fernseher den wahrgenommenen Raum, der gebaute, vom Architekten gestaltete Raum tritt in den Hintergrund, wird sekundär.

Das passiert schon beim lesen. Wenn du ein Buch aufschlägst, versinkst du im Buch, bist abwesend. Du tritts in einen anderen, in einen medialen Raum ein. Und die medial erzeugten Räume breiten sich immer mehr aus. Es hat eine Verlagerung von der Architektur zu den Medien stattgefunden. Traditionell kam den Architekten die Regie über die Alltagswelt zu. Deswegen fasziniert heute auch der Barock, weil dort vom höfischen Alltag, den Zeremonien und Festen bis zum Städtebau alles einer umfassenden Regie unterstelt war. Und da heute den Architekten dieses Regie über die Alltagswelt aus der hand genommen wurde, fangen sie wieder an, über Inszenierungen nachzudenken, was ich sehr richtig finde. Damit meine ich nicht einen besonderen formalen Ehrgeiz bei der Gestaltung eines Gebäudes. Das geht an dem Problem völlig vorbei.

Arch+: Welche Rolle spiel bei einer Inszenierung der Betrachter, der Benutzer?

Joachim Krausse: Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, Inszenierungen zu gestalten. Zum einen gibt es Inszenierungen, die dich terroristisch vereinnahmen. Es sind die simulierten Welten, die du nur noch passiv rezipierst. Ein hochauflösender Fernseher, der eine ganze Wand zu einem Screen verwandelt, dazu ein Quadroraumton vereinnahmen dich völlig. Wenn du davor, eigentlich darin sitzt, gehst du in der Inszenierung auf, du lebst in diesem Diorama, du kannst dich ihm nicht mehr entziehen. Du fährst dann im Bett Auto.

Andererseits gibt es interaktive Formen der Inszenierung, bei der der Betrachter zum handelnden Subjekt wird. In der Kunst gibt es z.B. Performances, bei denen der Aktionskünstler nicht festlegt, wie sich das Publikum zu verhalten hat. Es bewegt sich frei im Raum und erst dadurch wird die eigentliche Form der Performance gefunden. Das ist auch die Hauptrichtung in der modernen Musik, insbesonder bei John Cage. Cage ist sehr stark von Buckminster Fullers Idee der Ephemerisierung beeinflusst. In seiner Musik spielt die Stille, die Pause eine ähnliche Rolle wie die verschwindende Hülle bei Buckminster Fuller. Cage's Bestreben ist es, durch die Stille die Musik des Zuhörers zu wecken.

Arch+: Bezogen auf die Architektur heisst das doch, das gerade eine schlichte, unaufdringliche Architektur die eigene Vorstellungswelt des Benutzers aktiviert.

Joachim Krausse: Das ist auch das angenehme an den textilen Bauten. Man denke bloss an ein Zirkuszelt, bei dem es so gut möglich ist, den dramatischen Moment der Stille zu erzeugen.

Arch+: Cage arbeitet noch mit einem anderen Mittel zur Aktvierung des Zuhörers, dem Zufall. D.h. das im Gegensatz zu einer völlig geordneten Welt, einer programmierten Inszenierung, die die eigene Interpretation weitgehend ausschaltet, ein gewisses Mass an Unbestimmtheit und Chaos herrscht, das vom Zuhörer neu geordnet werden muss. Die Nichteindeutigkeit, die Mehrfachlesbarkeit fordern ihn heraus, selber eine Ordnung herzustellen.

Joachim Krausse: Das gleiche tritt auch beim Sehen auf. Der Projektionsbegriff ist doppeldeutig. Es gibt nicht nur eine Projektion technischer Bilder, auch der Mensch projeziert Vorstellungen und Bilder. Der Gesichtssinn arbeitet projektiv, das Auge ist Kamera und Projektor zugleich, es ist ein aktives Organ.

Arch+: Wie z.B. das weisse Quadrat von Malewitsch die Projektionen des Betrachters hervorruft im Gegensatz zu einem Fernsehapparat.

Joachim Krausse: Der entscheidende Einschnitt in der modernen Physik seit Einstein ist, dass der Betrachter immer mitgedacht wird. Du kannst dich nicht mehr neben ein Ereignis stellen und als Subjekt über einen objektiven Tatbestand reden. Mit dieser Trennung von Subjekt und Objekt ist es endgültig vorbei. Anstelle dessen tritt eine dauernde Wechselwirkung zwischen beiden, ein interaktives Oszillieren. Ephemere Strukturen fördern dieses Wechselspiel, lassen beides zu. Sie sind für beide Arten von Projektionen, innere wie äussere, gleichermassen geeignet.

Arch+: Die Relativitätstheorie hat auch die Idee des homogene, absoluten Raumszerstört. Im Raum - Zeit - Kontinuum ist die Beobachtung abhängig von der Eigenschaft des jeweiligen Raums. Ebenso eröffnet ein architektonischer Raum, der nicht mehr homogen, sondern durch Licht, Klang, Wärme ect. in unterschiedliche Bereiche differenziert ist, dem Betrachter die Möglichkeit, seine Situation zu beeinflussen, in dem er sich in unterschiedliche Raumzustände begibt.

Die Bewegung im Raum eröffnet gerade dann neue Raumerlebnisse, wenn die einzelnen Sinneserlebnisse unabhängig voneinander gestaltet werden. Wenn jemand einen Walkman aufhat und durch die Stadt läuft,kann sich das auf den Menschen nicht nur bedröhnend, sondern auch stimulierend auswirken. Die normalen Sinnzusammenhänge, die übereinstimmung zwischen optischer und akustischer Wirklichkeit werden destruiert. Ein optisches Ereignis wird mit einem völlig unabhängigen akustischen Ereignis überlagert, so dass der Mensch neue Sinnzusammenhänge konstituieren muss. So werden die projektiven Fähigkeiten des Menschen aktiviert, obgleich die akustische Welt für sich völlig determiniert ist.

Joachim Krausse: Durch seine Bewegung im Raum hat er es selber in der Hand, Ton- und Bildspur zu komponieren. Er sitzt sozusagen am Schneidetisch. Das ist ein sehr schönes Beispiel für den nichtsimultanen Raum. Die Nichtsmultanität ist die Haupteigenschaft des modernen Raumbegriffs. Das ist lange Zeit nicht verstanden worden, obgleich Einstein die Nichtsimultanität des Universums entdeckt hat. So schreibt Giedeon in seinem Buch 'Raum, Zeit, Architektur' in einem völligen Missverständnis Einsteins von der Entdeckung des simultanen Raumes durch diemoderne Physik.

Arch+: Warum ist der Einsteinsche Raum nichtsimultan?

Joachim Krausse: Der Einsteinsche Raum ist nichtsimultan, weil sich in der Raumzeit die Ereignisse nur teilweise überlappen. Bei dem Blick in den Sternenhimmel siehst du das, was eigentlich existiert, nicht. Du siehst Dinge zusammen, die nie gleichzeitig existiert haben und auch nicht mehr existiren. Was du siehst, kann nur von deinem Standpunkt und in diesem Moment gesehen werden. Von Simultanität kann keine Rede mehr sein. Die Herausforderung für die Architekten heute ist die Auseinandersetzung mit dem nichtsimultanen Raum.

erschienen in : Arch+ 107 | Aachen | 1991
 
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