Philipp Oswalt | 1997
 
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   Die Architektur intelligenter Gebäude

Zur Zeit sind wir Zeugen eines zivilisatorischen Umbruchs: die Industriegesellschaften wandeln sich in Dienstleistungsgesellschaften; das mechanische Zeitalter wird vom Informationszeitalter abgelößt. Uns Architekten stellt sich die Frage, in welcher Weise sich die Architektur dadurch verändert. Die Brisanz dieser Fragestellung zeigt sich, wenn wir bedenken, wie groß die Auswirkungen der Industrialisierung und Technisierung des 19. Jahrhunderts auf die Architektur waren. Im Rahmen dieses Aufsatzes möchte ich mich mit dem Thema befassen, wie sich der architektonische Raum verändert, welche neuen Raumkonzeptionen der Einzug der Informationstechnik in die Architektur ermöglicht.

Reyner Banham unterscheidet in seinem Buch 'the architecture of the welltempered environment' zwei Arten der Raumbildung: die konstruktive und die energiegestützte Lösung. Unser Architekturverständnis ist bisher von der konstruktiven Lösung geprägt: Für uns werden Räume durch Wände, Decken und Böden gebildet. Der Raum entsteht durch seine physische Abgrenzung von der Umgebung. Er ist in sich homogen.

Daneben gibt es seit Menschengedenken ein zweites Konzept der Raumbildung: Statt durch Abgrenzung werden Räume mit Hilfe von Energie gebildet, wie z.B. bei einem Lagerfeuer, das Wärme und Licht spendet. Der Raum entsteht nicht durch Abgrenzung, sondern durch die Modulation von Energiefeldern. Die Raumgrenzen sind vage, der Raum in Zonen unterschiedlicher Helligkeit und Wärme differenziert.

Ein solcher energetisch gebildeter Raum zeichnet sich durch vier Charakteristiken aus:

1.) Er ist nicht homogen, sondern ein Feld unterschiedlicher Dichte und Intensität.
2) Der Raum ist kein abgegrenztes, isoliertes Gebilde. Er ist Teil seiner Umwelt. Er geht in den Umraum über.
3.) Er wird durch die Umweltbedingungen und durch die Nutzung verändert. Er existiert nicht autonom, sondern er entsteht erst in Relation zu Umwelt und Nutzung
4.) Der energetisch erzeugte Raum ist wandelbar. Er wird durch einen Energiefluß gebildet. Der Energiefluß ist steuerbar.

Die Dynamisierung des Raums

Traditionell versteht man Architektur als die Gestaltung statischer, unveränderlicher Objekte. Die mit Hilfe von Energie gebildeten Räume verändern sich jedoch über die Zeit. Durch das Aufkommen der elektrischen Beleuchtung wurden die Architekten der Moderne erstmals mit diesem Thema konfrontiert.

In den 20er Jahren begannen Architekten wie Erich Mendelsohn und die Gebrüder Luckhardt über die unterschiedlichen äußeren Erscheinungen eines Gebäudes am Tag und in der Nacht nachzudenken. Durch den Einsatz elektrischen Lichts erzeugten sie ein vom Tagbild abweichendes nächtliches Erscheinungsbild des Gebäudes, entwarfen also eine zweiphasige Architektur. Entwürfe wie Mendelsohns Kaufhaus Schocken (Chemnitz 1928/29, Stuttgart 1926-28) sind Ausdruck einer neuen Vorstellung von Architektur: Gebäude werden nicht mehr als etwas Statisches angesehen, sondern als dynamische Raumkörper, deren unterschiedliche Zustände entworfen werden.

Diese andere Auffassung von Architektur findet man Ende der 20er Jahre auch bei der Gestaltung von Innenräumen. Le Corbusiers erste Projekte in dieser Hinsicht waren die Wohnhäuser Stuttgart-Weissenhof (1927) und das Maison Loucheur (1929): Tagsüber dient die ganze Wohnung als ein Wohnraum, nachts verwandeln Schiebetüren und Klappbetten den Einraum in mehrere Schlafkammern. So wird die knapp bemessene Wohnfläche optimal genutzt. Die Wohnung existiert in den zwei Zuständen der Tages- und Nachtphase.

Den eigentlichen Schritt zu einer völligen Dynamisierung des Raumes vollzog Le Corbusier dreißig Jahre später, als er den Philips-Pavillon für die Weltausstellung Brüssel 1959 entwarf. Dieser Ausstellungsbau ist eine sich ständig ändernde Rauminszenierung, die erste elektronisch gesteuerte Architektur. Le Corbusier erläutert seine Intention: 'Ich werde keinen Philips-Pavillon bauen, sondern ein elektronisches Gedicht. Es wird sich alles im Inneren abspielen - Ton, Licht, Farbe und Rhythmus. Das Gedicht wird acht Minuten dauern.'

Corbusier interessiert sich nicht für den Entwurf des Baukörpers, für die 'Hardware' - das überläßt er seinem Mitarbeiter Iannis Xenakis. Er konzipiert die 'Software', die immaterielle Inszenierung des Innenraums.

Dafür setzt er Diaapparate mit rotierenden Farbscheiben, hunderte von farbigen Leuchtstoffröhren und Lampen, mehrere Filmprojektoren, bewegliche Spiegel, die die Projektionsbilder im Raum verteilen, sowie hunderte von Lautsprechern ein.

Der Raum verändert sich kontinuierlich, in einem atemberaubenden Tempo. Die Steuerung erfolgt elektronisch, mit Hilfe eines 15-spurigen Magnetbandes, das bis zu 180 Schaltbefehle in einem Augenblick abgeben kann und über Verstärker und Servomotoren die Licht- und Klangereignisse steuert. Was damals eine Pioniertat war, ist heute in der Bühnentechnik üblich geworden: Heutige Bühnenbilder und Theaterbeleuchtungen werden mit Hilfe von vorprogrammatierten Computern gesteuert.

Die Dynamik einer solchen Rauminszenierungern ist nicht mehr bestimmt von dem natürlichen Tages- und Jahresrythmus. Eine synthetische Zeit, Eigenzeit, tritt an ihre Stelle. Der natürliche Zeitverlauf kann komprimiert oder gedehnt, oder durch eine völlig synthetische Zeit ersetzt werden. So wird im Philips-Pavilion die Geschichte der Menschheit in 8 Minuten erzählt.

Das Entwerfen von Szenarien

Ein dynamischer Raum läßt sich nicht mehr mit den traditionellen Mitteln architektonischer Darstellung - Grundriß, Schnitt ect. - entwerfen. Der Architekt muß andere Methode ersinnen, um den Raum beschreiben zu können; Methoden, die die Verwandlung des Raums über die Zeit und das Zusammenwirken seiner verschiedenen Parameter veranschaulichen.

Erste Ansätze dazu finden sich in den 20er und 30er Jahren, wie z.B. bei Le Corbusiers Ausstellungspavillon für die Exposition International Paris 1937. Er entwirft den Pavillon nicht als ein Objekt, sondern als ein Weg. Eine Handskizze Corbusiers legt das eigentliche Entwurfsthema dar: Die vom Besucher zu durchschreitende Raumfolge im Inneren des Pavillons. Mit dem Entwurf des Weges werden die einzelnen inszenierten Räume in Zusammenhang gebracht. Corbusier entwirft die Raumsequenz.

Auch beim Philips-Pavillon ist die Entwurfsaufgabe eine Sequenz von Ereignissen. Doch stellt sich diese nicht erst durch die Bewegung des Betrachters her, sondern es ist der Raum selbst, der sich wandelt. Zudem muß eine Vielzahl paralleler Ereignisse koordiniert werden. Corbusier entwirft dieses 'Elektronische Gedicht'; mit Hilfe von Partituren und Storyboards. Er greift somit Methoden aus Film, Theater und Musik auf, und überträgt sie auf die Architektur. Dabei ist er nicht der erste. Moholy Nagy und Hirschfeld-Mack führten in den 20er Jahren am Bauhaus räumliche Experimente durch, für die sie Partituren schrieben (wie z.B. Moholy-Nagys Partitur zu einer mechanischen Bühnenexzentrik für die Bühne am Bauhaus).

Le Corbusier beschreibt in seinen ersten Skizzen den zirkularen Ablauf der achtminütigen Inszenierung mit einem Kreis. Die Ausarbeitung erfolgt dann als lineares Band wie bei einer Partitur. Le Corbusier schreibt dazu: ”Wie müssen die Befehle erteilt werden? Wir mußten ein Werkzeug erfinden, das die Gedankenübertragung erlaubt. Das Gedicht wurde in Drehbuchalben aufgezeichnet. Es hatte vertikale Kolonnen und die Zeiteinteilung geschah in horizontalen Streifen von je einer Sekunde. (...) Die Partitur synchronisierte hunderte von Elementen (Reihenfolge, Simultanität usw.).'

Die Anwendung musikalischer und filmischer Entwurfsmethoden offenbart die Wandlung des Raumverständnis: Anstelle starrer Körper tritt eine sich wandelnde Inszenierung immaterieller Räume. Doch zugleich ist auch der Ablauf der Inszenierung festgelegt wie bei einem Theaterstück oder einem Film. Im Gegensatz zu einem intelligenten Gebäude ist das Gebäude unfähig zu reagieren. Es ist kein intelligentes Gebäude, sondern sein konzeptioneller Vorläufer: Das automatisierte Gebäude - bereits computergesteuert, aber nicht interaktiv.

Den letzten Schritt zum intelligenten Gebäude vollzog der 'Vater' von Archigram und dem Centre Pompidou - der britische Architekt Cedric Price mit seinem Projekt Generator. 1976 entwarf er den 'Generator' weniger als eine Anordnung von Baukörpern im Raum sondern als eine Software, die die Wechselbeziehung zwischen Nutzer, Standort und vorhandenen Ressourcen regelt. Das Programm ist nicht mehr ein vorbestimmter Ablauf, sondern eine offene Struktur, die auf die Nutzerwünsche reagiert. Die Aufgabe der Architektur ist, dem Nutzer zu dienen und ihm bei seinen Aktivitäten zu stimulieren. Wenn der Computer von einer langen Passivität des Nutzers 'gelangweilt' ist, nimmt er selbstätig Veränderungen im Gebäude vor. Dies ist eine Umkehrung des Konzepts eines automatisierten Gebäudes: Statt Entscheidungsfreiheit und Phantasie der Menschen einzuschränken, wird sie geradezu provoziert.

Die Idee ist, daß das Gebäude nicht eine Abfolge von Zuständen festlegt, sondern zu einem Werkzeug für den Nutzer wird und ihm Wahlmöglichkeiten eröffnet. Um ein solches Gebäude zu entwerfen, ist die Szenarientechnik unzureichend, da sie einen bestimmten Verlauf festschreibt. Sie erlaubt nicht, auf unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren. Ihr liegt ein Automatismus zugrunde, der äußere Einflüsse ignoriert.

Die Dynamik eines intelligenten Gebäudes hingegen beruht darauf, daß es auf Veränderung in der Umgebung reagiert. Der Raum ensteht aus dem Wechselspiel von Umwelt, Nutzung und Gebäude. Das Gebäude wird zu einem offenen System, daß auf äußere Einflüsse reagiert und somit die unterschiedlichen Kräfte in ein Gleichgewicht bringt. Dem Entwurf eines intelligenten, interaktiven Gebäudes liegt die Analyse und Gestaltung dieses Kräftspiels zu Grunde. In den letzten 20 Jahren wurden Computerprogramme entwickelt, die anhand mathematischer Modelle dynamische Energieflüsse wie Luft-, Licht-, Klang- und Wärmeströme beschreiben. Somit kann das Verhalten eines Gebäudes am Computer simuliert und auch entworfen werden.

Die Entwicklung vom automatisierten zum intelligenten Gebäude finden wir nicht nur in den avantgardistischen Konzepten, sondern - mit einer Zeitverzögerung von 10 - 20 Jahren - auch in der kommerziellen Bauproduktion wieder. In den späten 60er Jahren wurde die Gebäudeautomatisation eingeführt: Bei dieser ersten Form von Computerisierung von Gebäuden wurde die Haustechnik zentral und nach einem fixen Schema gesteuert. So wurde z.B. nach offiziellem Arbeitsschluß Beleuchtung und Klimatiserung abgestellt: Wer Überstunden machte, saß im Dunklen.

In den 70er Jahren wurde diese Technik zur sogenannten intelligenten Gebäudeleittechnik weiterentwickelt: augestattet mit Sensoren regagieren diese Systeme auf die tatsächliche Nutzung und geben dem individuellen Nutzer die Möglichkeit, in das lokale Geschehen einzugreifen.

Der fließende Raum

Doch zurück zum Raumbegriff: Was ist die Charakteristik eines aus Licht, Klang, Luft, Wärme, aus Energiefeldern gebildeten Raums? Das Eingangs erwähnte Beispiel des Lagerfeuers hat einige Eigenschaften bloß gelegt. Das Feuer strahlt konzentrisch Licht und Wärme aus, der Wind lenkt die Rauchfahne in eine Richtung: Der Raum ist nicht homogen und reagiert auf die Umwelteinflüsse.

Doch wie sieht ein mit modernen, technischen Mitteln erzeugter 'immaterieller' Raum aus? Eines der interessantesten Beispiele dafür sind die von dem Komponisten und Architekten Iannis Xenakis nach Beendigung seiner Zusammenarbeit mit Corbusier (1947 bis 1960) entwickelten Licht-Klang-Kompostionen, die eine Weiterentwicklung des Raumkonzepts des Philips-Pavillon sind. Er gab diesen von ihm entwickelten Rauminszenierungen, die in den Jahren 1966-78 entstanden, den gemeinsamen Titel 'Polytope'. Das Wort 'Polytop' setzt sich aus den beiden altgriechischen Wörtern 'poly' = viel und 'topos' = Platz, Ort zusammen. So ist der Titel zu verstehen als eine Bezeichnung für Rauminszenierungen, bei denen sich zahlreiche Räume - Räume aus Licht, Farbe, Klang und Architektur - an einem Ort überlagern.

Bei den Polytopen ist der Akustische Raum wie beim Philips-Pavillon in unterschiedliche Klangbereiche differenziert: ein räumliches Klangfeld aus im Raum verteilten Klangquellen. Bei Xenakis ersten Licht-Klang-Inszenierung, dem Polytop de Montreal von 1966, musizieren vier Orchester auf den unterschiedlichen Geschoßebenen in einem mehrgeschossigen Raum.

In den folgenden Jahren entwickelt Xenakis ein Konzept der zeitlichen Diversifizierung des musikalischen Raums, was bei seinem Schlagzeugstück Psapha (1975) besonders deutlich wird: Im Zeitraum überlagern sich eine langsame Geschwindigkeit tiefer Töne mit einer mittleren und einer schnellen Geschwindigkeit hoher Töne. Die Zeit ist nicht mehr absolut. Mehrere Zeiteinteilungen, verschiedene Tempi existieren nebeneinander, die Zeit oszilliert.

Dieses Verfahren wendet Xenakis auch bei den Rauminszenierungen der Polytope an. So ist bei dem Diatop - für die Einweihung des Centre Pompidou 1978 entworfen - die Musik fast statisch, bewegt sich in langsamen Wellen, während sich Lichtblitze in rasendem Tempo, in Bruchteilen von Sekunden verändern und die Komposition aus Laserstrahlen wiederum einem eigenen Tempo folgt. Die Zeit ist nicht mehr eindeutig.

So wie der akustische Raum nicht durch Melodien, sondern durch Klangfelder unterschiedlicher Dichte geformt ist, gestaltet Xenakis den visuellen Raum als abstraktes Lichtfeld variierender Intensität und verzichtet auf die Projektion fotografischer Bilder. War der Philips-Pavillon noch eine Art Multi-media-Show, ist das Diatop ein räumliches Licht- und Klangfeld, das sich zudem nach Außen hin öffnet: Die äußere Raumhülle ist eine halbdurchläßige Membran aus rotem Kunststoff, die Licht, Klang und Wärme filtert und moduliert. Diese eher passiv-selektive Membran wird durch eine innere aktive Membran ergänzt - ein Metallnetz, an dem Licht- und Schallquellen befestigt sind. Eine Gebäudehülle, die den Raum nicht begrenzt, sondern moduliert. Sollte bei dem Philips-Pavillon die undurchlässige Betonhaut die Umwelt neutralisieren, den Innenraum abgrenzen und verdunkeln, so ist die zweischichtige Membran des Diatop halbdurchlässig und in ihrer Raumwirkung steuerbar.

Bereits Ende der 50er Jahre hatte Xeankis als Mitarbeiter von Le Corbusier Fassaden des Klosters La Tourette als eine Membran entworfen. Xenakis Skizzen zeigen, wie er seine musikalischen Ideen von Klangfeldern und Dichten auf die Architektur überträgt. Die Fassade ist keine Komposition mehr von Wandfläche und Öffnung, von Voll und Leer. Stattdessen ist sie als Verteilung von Dichten konzipiert - hier noch mit einfachsten Mitteln, einer Abfolge von opaken und transparenten Elementen. Die Gebäudehülle ist nicht mehr offen oder geschlossen. Zwischen- und Grautöne werden möglich. Der Raum ist nicht mehr in Masse und Hohlraum organisiert, sondern besteht aus Energiefeldern unterschiedlicher Dichte, die den Raum kontrahieren und dehnen.

Mit den Poytopen von Iannis Xenakis wird ein neues Raumkonzept in die Geschichte der modernen Architektur eingeführt: Das archaische Konzept der energiegestützten Raumbildung wird mit zeitgenössischen Technologien umgesetzt.

Der Raum wird nicht mehr primär durch seine Umfassungswände definiert, sondern durch die immateriellen Qualitäten von Licht, Klang und Klima, die durch Filter (Gebaeundehülle) und aktive Elemente (Licht- und Klangquellen) moduliert werden. Diese einzelnen 'Dimensionen'; des Raumes sind nicht mehr synchron. Sie werde unabhängig voneinander gesteuert. Es überlagern sich verschiedene, einander widersprechende Räume aus Licht, Klang, Farbe, Projektion; 'Polytope' entstehen. Der Raum ist vieldimensional, dynamisch und in unterschiedliche Bereiche differenziert.

Es ist ein Raum der Überlagerungen, der Übergänge, der Modifikationen, der Transformationen, der Dichten und Intensitäten. Der Raum ist ein sich ständig änderndes Möglichkeitsfeld. Die technische Ausstattung bietet ein großes Spektrum an Möglichkeiten, die je nach Bedarf aktualisiert werden können. Der Raum ist ein ständiges Werden.

Die Verflüssigung des Raums

In einem solchen Raum drückt sich ein anderes Denken aus. Der Philosoph Vilem Flusser unterscheidet zwischen der Seßhaftigkeit, die auf einem Denken in festen Kategorien und Begriffen basiert, und dem Nomadismus, dem ein Denken in Beziehungen und Relationen zu Grunde liegt. Während die konstruktive Raumbildung einem Denken in festen Kategorien entspricht, kommt in der energiegestützen Raumbildung ein Denken in Relationen zum Ausdruck. In ähnlicher Weise unterscheiden die französischen Philosophen Deleuze und Guattari in Ihrem Buch 'Tausend Plateaus'; zwischen dem glatten und dem gekerbte Raum: Den gekerbten Raum vergleichen sie mit einer in Ackerfelder aufgeteilten Landschaft, in der alles meßbar, abgezirkelt und definiert ist. Der glatte Raum hingegen ist fließend, nicht faßbar, wie das Meer oder die Wüste. Er ist der Erlebnisraum.

Der Raum intelligenter Gebaeude ist in seinem Wesen nomadisch. In ihm spiegelt sich der zunehmend nomadische Charakter der Informationsgesellschaft, die durch Globaliserung, Mobilität, Telematik und Vernetzung gepraegt ist. Rem Koolhaas beschreibt in seinem Buch 'Delirious New York'; anhand einer Architekturphantasie aus dem New York der 20er Jahre den nomadischen Charakter dieser immateriellen Räume. Im 80. Stockwerks des Hochhauses befindet sich ein Hotel, in dessen Zimmern es 'eine Vorrichtung mit je sieben Luftreglern und Thermostaten gibt, die einmal mehr den antipragmatischen, ja poetischen Gebrauch großtädtischer Infrastruktur demonstrieren.' Diese bieten verschiedene Luftarten zur Auswahl an: salzige, trockene, medizinisch aufbereitete und parfümierte Luft. Ebenso kann die Temperatur beliebig reguliert werden 'Die Regler dieser techno-psychischen Batterien sind der Schlüssel zu einer Reihe synthetischer Erfahrungen, die von hedonistischen bis zu hypermedizinischen reichen. Einige Räume können auf Florida eingestellt werden, andere auf Rocky Mountains. Parfüm und Inhalationsmöglichkeiten eröffnen sogar noch abstraktere 'Reisemöglichkeiten'. Im 100stöckigen Hochhaus ist jede Zelle so eingerichtet, daß jeder auf seine private, existenzielle Reise gehen kann.” Dieser individuell steuerbare Innenraum -Beispiel energiegestützter Raumbildung- stellt das moderne Gegenstück zum Lagerfeuer der Nomaden dar.

Die Fassade als Membran

Traditionell waren Innen- und Außenraum voneinander getrennt: Bei der konstruktiven Raumbildung schirmten massive Wände den Innenraum von der Umwelt ab.

Das Denken in Energiefeldern führt zu einem anderen Konzept der Beziehung zwischen Innen und Außen. Energetisch gesehen gibt es keine absolute Trennung zwischen Innen und Außen. Energieströme können nicht völlig unterbunden werden, man kann sie lediglich regulieren, verstärken oder schwächen. Der energetische Raum fließt.

So betrachtet wird das Haus zu einem offenen System, das im Austausch mit seiner Umwelt steht. Die Gebäudehülle ist nicht mehr eine undurchlässige, absolute Grenze, sondern eine semipermeable Membran.

Das Denken in Gegensätzen -innen/außen, voll/leer- wird abgelöst von einem Denken in Dichten und Intensitäten. Die Fassade wird zum Raummodulator, der die vorhandenen Energieströme verändert, transformiert. Sie besteht aus mehreren Schichten unterschiedlicher Dichte und Durchlässigkeit, die in ihren Eigenschaften zum Teil steuerbar sind. Sie regulieren den Licht- und Wärmedurchlaß, den Luftwechsel und die Schallausbreitung. Innen- und Außenraum sind miteinander verknüpft, die Fassade ist keine starre Grenze, sondern eine semipermeable Membran, die den Energiefluß moduliert.

Zur Realisation dieses Konzepts stehen inzwischen 'intelligente Materialien'; zu Verfügung, die Ihre Durchlässigkeit je nach Umweltbedingungen selbsttäig verändern. So gibt es phototrophe Gläser, die bei erhöhtem Lichteinfall zunehmend lichtundurchlässig werden und somit die einfallende Lichtmenge regulieren. Andere Materialien verändern Ihre thermischen oder akustischen Eigenschaften.

Das Denken in Energieströmen und Feldern, die Entwicklung semipermeabler, in ihrer Durchlässigkeit steuerbarer Gebäudehüllen führt zu einer neuen Konzeption der Idee des fließenden Raums. In der klassischen Moderne sprach man in Abkehr von der klassischen Vorstellung klar abgegrenzter Räume erstmals vom fließenden Raum. Man wollte die Raumgrenzen niederreißen, Innen und Außen miteinander verbinden. Die massive Wand wurde durch die Ganzglasfassade - wie z.B. bei Mies v.d. Rohes Hochhausentwurf für Berlin Friedrichstraße von 1919 - abgelöst, Innen und Außen wurden miteinander kurzgeschlossen.

Heute deutet sich ein neues, differenzierteres Verständnis vom fließendem Raum an, das der japanische Architekt Toyo Ito folgendermaßen umschreibt: 'Mit dem Entwerfen von Architektur werden Verwirbelungen in den Strömungen von Wind, Licht und Schall geschaffen. Entwerfen von Architektur heißt weder, daß man Dämme gegen die Strömung baut, noch daß man sich ihr überantwortet.'

D.h. Innern und Außen werden nicht kurzgeschlossen, aber miteinander verbunden. Die Beziehung zwischen beiden wird reguliert.

Es geht darum, sich der vorhandenen Strömungen bewußt zu werden und diese zu regulieren. Durch die Durchlässigkeit und Dichte der Raumumschließungsfläche wird das energetische Feld eines Raums moduliert. Die Sonnenschaufel von Norman Fosters Hongkong & Shanghai Bank symbolisiert dieses neue Denken, auch wenn das Gebäude ansonsten konventionell ist: Der Spiegel folgt dem Lauf der Sonne und lenkt das Licht in das Gebäudeinnere. Er stellt somit eine regulierte Beziehung zwischen Innen und Außen her.

Eine wirkliche Realisierung der Idee der Fassade als Raummodulator ist Toyo Itos Turm der Winde (Tokyo 1986). Er besteht aus einer transparenten aktiven Hülle: In die Fassadenhaut sind Punktleuchten, Neonröhren und Flutlichtscheinwerfer integriert, die auf Umgebungsgeräusche, Windbewegungen und Zeitverlauf reagieren, Helligkeit und Transparenz verändern. Es ist eine aktive Hülle, die vorhandene Energieströme moduliert, transformiert und verstärkt. Der Raum durchfließt das Gebäude und wird dabei moduliert.

Der Informationsraum

Auch die Telekommunikation regelt das Verhältnis zwischen dem Gebäude und seiner Umwelt, aber in ganz anderer Weise. Sie stellt - mittels telematischer Übertragung - Kurzschlußverbindungen zu entfernt liegenden Räume her.

Traditionell war es dem Menschen nur möglich, im Bereich seiner unmittelbaren Lebenswelt - dem Mediokosmos - zu handeln. Mit Hilfe technischer Mittel wie Mikroskop und Teleskop wurde es ihm mit der Zeit zunehmend möglich, den Microkosmos (der Moleküle, Atome und Quanten) und den Macrokosmos (der Erde, des Sonnensystem, des Universums) wahrzunehmen, zu analysieren und zu gestalten.

Heute gibt es einerseits ein Molekül- und Quantendesign: Wir können bis auf die Maßstabsebene kleinster Elementarteilchen auf unsere materielle Welt Einfluß nehmen und sie gestalten. So werden für Laser Dioden von CD-Playern zweidimensionale Quantenmulden hergestellt, die nur wenige Nanometer groß sind. Mithilfe des Moleküldesigns werden neue Materialen entwickelt. Andererseits haben wir Menschen Macrostrukturen entwickelt, die den gesamten Erdball umspannen, wie z.B. Satelittensysteme, Elektrizitätsnetze und Piplines.

Der Raum der technischen Medien erstreckt sich über den Mediokosmos der Lebenswelt hinaus auf den Makrokosmos und den Mikrokosmos, jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmung. Der Energie- und Informationsaustausch basiert auf Microprozessen und vollzieht sich in Macrostrukturen. Nur die Ein- und Ausgabegeräte des medialen Raums - die Interfaces - sind im Mediokosmos unserer Lebenswelt präsent.

Gebäude sind an die globalen Netzwerke für Informations-, Energie- und Stoff- Transport angeschlossen, sie sind mit unzähligen weit entfernten Orten kurzgeschlossen. Wir können in Australien anrufen, eine Web-page aus Singapur im PC öffenen oder die Präsidentschaftswahlen in Rußland im Fernsehn verfolgen. Wir beziehen unsere Heizenergie aus Saudi-Arabien oder dem Golf von Mexiko.

Somit tritt neben den unmittelbaren Kontext der natürlichen oder städtischen Topographie der Kontext der medialen Netze. Unsere Bauten sind die sichtbaren Auswüchse dieser globalen Netze und der in ihnen stattfindenden Prozesse, die sich ansonsten der Wahrnehmung entziehen.

Die Netze bilden ein Feld von Austauschmöglichkeiten, die je nach Bedarf aktiviert werden können. Der elektronische Raum ist ein Möglichkeitsfeld. Er existiert nicht per se, sondern nur virtuell. Er ist nie vollständig vorhanden. Nie sind alle Verbindungen gleichzeitig aktiv - was auch nicht möglich wäre. Er wird ausschnittsweise und zeitweise realisiert.

In seiner Potentialität ist der Informationsraum dem energetischen Raum ähnlich. Es ist der Raum der Nomaden, es ist der glatte Raum, der Raum der Beziehungen und Verhältnisse, nicht der Definitionen und Objekte.


erschienen in: Thesis, Wissenschaftliche Zeitung der Bauhaushochschule Weimar | Weimar | 1997
 
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