Philipp Oswalt | 1998
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Entwerfen von Natur

Der Mensch sehnt sich nach Natur als dem Ursprünglichen und Unverfälschten. Je mehr die Zivilisation voranschreitet, desto stärker prägt sich diese Sehnsucht aus. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entwickelte sich die romantische Naturschwärmerei und in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde mit der Ökologiebewegung der Ruf nach der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens. Zugleich basieren die Ursprünge menschlichen Handelns auf dem Wunsch, nicht mehr dem Zufallsspiel der Natur ausgeliefert zu sein. Kultur geht aus der Überformung der Natur hervor. Nicht von ungefähr spricht man vom 'Kultivieren' eines Ackerbodens. Das deutsche Wort Kultur entstammt dem lateinischen Wort 'cultura', das sowohl Landbau wie Pflege des Körpers und Geistes meint. Der Philosoph Vilém Flusser beschreibt diesen Zusammenhang anhand der Geste des Pflanzens: 'Pflanzen heißt, Löcher zu Graben, um die Natur zu zwingen, widernatürlich (kulturell) zu werden. Die Grundeinstellung der Geste des Pflanzens ist, das Unvorhergesehene notwendig zu machen. Natürlich ist im Verlauf der letzten Jahrtausende das Pflanzen technischer geworden, weil ja der theoretische Abstand dazu immer zunahm. Aber im wesentlichen ist dies alles in der ursprünglichen neolithischen Geste des Pflanzens enthalten, nämlich in dem Entschluß, die Natur in ihrer eigenen Gesetzlichkeit gegen die Natur selbst zu wenden. Dank der Geste des Pflanzens also lebt der Mensch seit dem Neolithikum in einer künstlichen Welt.'[ 1 ]
Der Mensch schafft sich eine eigene Welt, mit Gesetzen, die er selber bestimmen und kontrollieren kann. In unserer Lebenswelt wird mehr und mehr 'Natur' durch 'Kultur' ersetzt. Aufgrund des Fortschreitens dieses Prozesses hat eine Umkehrung stattgefunden: War früher die Kultur der Gegenentwurf zur Natur und eine Befreiung des Menschen vom Zufallsspiel der Natur, so ist heute die Idee der Natur der Gegenentwurf zur Kultur, eine Befreiung des Menschen aus dem von ihm selbst geschaffenen Zwängen. Doch da Natur nicht mehr etwas Gegebenes, sondern etwas Gemachtes ist, wird der vermeintliche Ausbruch aus den Zwängen der Kultur zur Utopie. Das, was wir heute gemeinhin 'Natur' nennen, ist größtenteils Kultur, ist vom Menschen kontrolliert und konstruiert.
Agrar- und Tourismusindustrie, Rohstoff- und Energiegewinnung, Flussregulierungen und Infrastrukturen haben die Landschaften tiefgreifend überformt, und zugleich sind auf Abbruchhalden und den Brachen der Großstädte die artenreichsten Biotope entstanden. Während sich diese schon über Jahrtausende andauernde Transformation weiter fortsetzt, stehen wir heute an einem Epochenwechsel, der unser Verständnis von 'Kultur' und 'Natur' grundlegend ändert. Maßgebend dafür sind zwei neue Schlüsseltechnologien: die Biotechnologie und die neuere Entwicklung der Computertechnik unter den Stichworten 'Künstliche Intelligenz' und 'Künstliche Evolution'.
Die fortschreitende Entschlüsselung der Konstruktionsprinzipien des Lebendigen macht es dem Menschen möglich, in den Bauplan von Lebewesen gezielt einzugreifen, vorhandene Lebewesen nach eigenen Vorstellungen zu verändern und - zumindest theoretisch - neue Lebewesen zu konzipieren. 1982 gelang es erstmals, ein menschliches Hormon von gentechnisch manipulierten Bakterien herstellen zu lassen; 1990 wurde erstmals ein schwerkranker Mensch durch Eingriffe in seine Gensubstanz erfolgreich behandelt. Der genetische Code des Menschen ist fast vollständig entschlüsselt. Die heutige Biotechnologie ermöglicht es, durch mikrobische, tierische oder pflanzliche Zellen eine Vielzahl von Substanzen zu gewinnen, herzustellen, zu transformieren und abzubauen[ 2 ] . Mikroben gewinnen aus Erzvorkommen Rohstoffe wie Kupfer, Zink oder Uran; Bakterien reinigen verseuchte Böden oder produzieren biologisch abbaubare Kunststoffe. Gentechnisch manipulierte Pflanzen produzieren Schmierstoffe für Maschinen oder auch menschliche Antikörper und Impfstoffe.
Gleichzeitig erhalten technische Konstruktionen des Menschen zunehmend Eigenschaften, die bisher dem Lebendigen vorbehalten waren. Dazu gehören Selbstreparatur, Selbststeuerung, Lernfähigkeit und Selbstreproduktion. Seit den sechziger Jahren arbeiten Informatiker mit 'genetischen Algorithmen' und 'künstlicher Evolution'. Seit Ende der achtziger Jahre experimentiert der ehemalige Zoologe Tom Ray mit Computerprogrammen, die sich selbst fortpflanzen, mutieren und auch absterben. Er setzte auf seinem Computer 'Kulturen' von Computerviren an, die in einem evolutionären Prozess selbsttätig Formen von Sexualität und Parasitentum hervorbrachten. Ray verfolgt die Idee einer 'Digitalen Landwirtschaft', um auf evolutionärem Wege neue Computerprogramme zu 'züchten'.[ 3 ] In den Computerwissenschaften vollzieht sich somit ein Paradigmenwechel von linearen Kausalketten zu komplexen Strukturen, vom Konstruieren zur selbstständigen Evolution.
Durch diese Entwicklungen verschwimmen die Grenzen zwischen 'Natürlichem' und 'Künstlichem'. Beide Sphären beginnen miteinander zu verschmelzen. In der Medizin etwa fängt man an, mit elektronischen Bauteilen Teile des Nervensystems zu ersetzen. Das früheste Beispiel dafür war der Herzschrittmacher. Inzwischen wurden auch elektronische Sensoren entwickelt, die Wahrnehmungsorgane des Menschen ersetzen. So können ehemals taube Menschen durch die Implantation von elektronischen Ohren in ihr Nervensystem wieder hören. Aus Mangel an Spenderorganen werden Methoden zur Züchtung künstlicher Organe entwickelt. Bei diesem 'tissue engineering' wird eine Tragkonstruktion aus biologisch abbaubarem Kunststoff quasi mit Zellen besät, die sich vermehren und zusammenschließen, bis sie das Formteil fast gänzlich ausfüllen. Schließlich wird der Kunststoff abgebaut und das lebende Gewebe bleibt zurück .[ 4 ] In der Computertechnik operiert man zunehmend mit organischen Substanzen, die zum Beispiel als 'Biosensoren' in elektronische Geräte eingebaut werden. 1994 entwickelte der Amerikaner Leo Adelmann den ersten DNA-Computer, der mit Hilfe der Aminosäuresequenzen der Erbsubstanz bestimme Typen mathematischer Probleme schneller lösen kann als irgendein konventioneller Computer. Natur wird künstlich-technisch, Technik wird lebendig. Die unmittelbare Verknüpfung des Lebendigen mit der technischen Konstruktion, einst eine Phantasie der Science Fiction Filmen mit ihren Cyborgs, ist Realität geworden.
Diese Synthese vollzieht sich nicht nur auf der Ebene des Lebewesens, sondern auch in deren Zusammenspiel im Ökosystem. Mit dem Aufkommen der Raumfahrt nach dem Zweiten Weltkrieg wendet sich die Wissenschaft der Ökologie von einer analytischen zu einer projektiven Arbeitsweise. Der Wunsch, Lebewesen außerhalb der Biosphäre der Erde für kurze Zeiträume Lebensmöglichkeiten zu schaffen, erfordert den Entwurf temporärer Ökosysteme für veränderte Rahmenbedingungen. Aus diesen ersten Ansätzen entstand die Wissenschaft von der 'Industriellen Ökologie', deren Ziel es ist, die vom Menschen generierten Stoff- und Energieströme in die natürlichen Kreisläufe einzufügen. Dabei geht es nicht um eine möglichst naturnahe Produktion, sondern um die Idee, technische Zivilisation und Natur in ein Gesamtsystem zu integrieren.[ 5 ]
Ein einfaches Beispiel hierfür sind die Gewächshauskulturen, bei den Blumen, Tomaten oder andere Gemüse ohne Bodensubstrat in einer rein chemischen Nährlösung unter künstlicher Beleuchtung und Klimatisierung gezüchtet werden. Diese Ökosysteme sind von den externen Zyklen der Tages- und Jahreszeit entkoppelt, was unter anderem erlaubt, den Wechsel des Tag-Nacht-rhythmus der Pflanzen und damit ihr Wachstum zu verdoppeln.
Neben der Agrarindustrie hat sich die Tourismusbranche zu einem wichtigen 'Naturproduzenten' entwickelt. So wurden in den letzten Jahrzehnten eine Unzahl von Wellenbädern, Indoor-Skipisten und Kletterhallen errichtet, um eine von Standort und Jahreszeit unabhängige Ausübung landschaftsbezogener Sportarten zu ermöglichen. Die künstlichen Landschaften sind nicht nur sicherer und komfortabler als ihre natürlichen Vorbilder. Sie sind auch veränderbar: So kann etwa in Kletterhallen die Neigung der Wände hydraulisch variiert und durch die Veränderung der Paneelkonfiguration eine Vielzahl unterschiedlicher Kletterrouten generiert werden. Derartige künstliche Landschaften werden in Europa jährlich von Millionen Menschen aufgesucht, die vielfach gar nicht mehr interessiert sind, ursprüngliche Naturräume aufzusuchen, sondern die Intensitätssteigerung der Simulakren bevorzugen.
In der Nähe von Ballungszentren werden große Glasbauten errichtet, in denen Kurzurlauber einige Tage simulierte Südsee erleben können. Der holländische Anbieter Center Parcs betreibt inzwischen 13 solcher Ferienzentren, die von über drei Millionen Gästen jährlich aufgesucht werden. Auf kleinstem Raum finden sich verschiedenste Landschaften, Attraktionen und Ereignisse - Dschungel, Felsen, Wildwasserbahn, Kletterwand, Meer mit Sandstrand und Palmen, Lagunen und Korallenriffs ebenso wie Skipisten zum Snowboradfahren, Schiffwracks, türkische Dampfbäder und Whirlpools. Die Künstlichkeit ermöglicht die Verknüpfung von Natur und Komfort, von Abenteuer und Sicherheit.[ 6 ]
Die künstliche Natur des Center Parcs ist von der Autobahn aus schnell zu erreichen, wetterunabhängig, komfortabel und einfach konsumierbar. Zugleich ist sie komprimiert und intensiviert: Center Parcs scheinen damit der äußeren Natur überlegen zu sein. An die Stelle von Authentizität und Ursprünglichkeit tritt der Wunsch nach maximaler Erlebnisintensität. Die Tourismusforschung hat festgestellt, dass sich die Erwartungshaltung der Konsumenten verändert und sich ein neuer Typus des Touristen entwickelt hat. Der sogenannte 'Post-Tourist' ist nicht mehr auf der Suche nach Authentizität, sondern versteht sich als selbstbewusster Teilnehmer an einem Spiel, bei dem künstliche Welten wie Las Vegas, Disney World oder die postmoderne Shopping Mall attraktiver sein können als vermeintlich authentische Orte und Landschaften.
So konstatierte der Ausstellungsmacher Jeffrey Deitch anlässlich einer Ausstellung über künstliche Natur: 'Heute, wo sich die Naturwissenschaften der Erschaffung künstlichen Lebens widmen, und Computer virtuelle Realitäten erzeugen, und wo es mehr um Image als um Substanz geht, ist die Suche nach Wahrheit vielleicht obsolet geworden. Es gibt keine absolute Realität mehr, aber die Möglichkeit von multiplen Realitäten, jede von diesen so 'real' oder künstlich wie die anderen. Das Ende der Moderne trifft nicht nur zusammen mit dem Ende der 'Natur', sondern auch mit dem Ende der Wahrheit.'[ 7 ]
Wenn wir uns bewusst werden, dass Natur nicht mehr etwas Gegebenes ist, sondern etwas Gemachtes, dann hat dies einerseits einen immens befreienden Charakter. Wir können uns alternative Naturen erdenken. Andererseits verlieren wir mit dieser Erkenntnis den Boden unter den Füßen, weil es keine Gewissheiten mehr gibt. Es gibt nicht mehr das Authentische, das Selbstverständliche, das Natürliche. Dies erfordert nach Ansicht von Vilém Flusser ein völliges Umdenken in der Politik, der Ethik, der Wissenschaft und der Religion: 'Ich bin überzeugt, daß wir alle Kategorien werden umdenken, wenn nicht aufzugeben haben. Es geht dabei keinesfalls um einen Rückfall ins faschistoide biologische Denken der blutigen jüngsten Vergangenheit, weil ja Biologie nicht mehr als das unveränderliche Gegebene, sondern im Gegenteil als das zu Gestaltende gesehen wird.'[ 8 ]
Die Ideale vom Ewigen und Absoluten, von Abgrenzung und Kontrolle stehen in Frage. Die Artefakte gewinnen ein Eigenleben. Anstelle des Ingenieurs, Künstlers oder Autors tritt die selbstregulierende Evolution. So resümiert der amerikanische Publizist Kevin Kelley die jüngsten Entwicklungen von Biotechnologie und Computertechnik in seinem Buch 'Out of Control': 'Die Welt des Gemachten wird bald wie die Welt des Geborenen sein: autonom, anpassungsfähig und kreativ, aber konsequenter Weise auch außerhalb unserer Kontrolle.'[ 9 ]
Die Fusion von Technik und Natur markiert die Abwendung vom mechanischen Zeitalter: Die Fusion von Biotechnologie und Informatik stellt nicht nur das Exakte, Standardisierte und Homogene in Frage, sondern ebenso das Kalkulierbare und Vorhersehbare. Sie entdeckt das Amorphe, Lebendige und Unberechenbare, das autonom Evolvierende. Es kommt zu einer Ausweitung des programmatischen, thematischen wie formalen Kanons, der heute ebenso durch technische Konstruktionen wie durch 'natürliche' Substanzen realisiert werden kann. Das Denken in linearen Kausalketten wird abgelöst vom Netzdenken, das Konstruieren durch das Evolvieren und die künstliche Evolution. Anstelle von Abgrenzung und Trennung tritt Integration und Verknüpfung, anstelle des Wahren das Mögliche, anstelle von Ursprünglichkeit Intensität, anstelle von Beherrschung Intervention.
Wir stehen am Anfang einer kulturellen, politischen wie ethischen Umwälzung, die den Lebensalltag eines jeden von uns radikal verändern wird. 'Wir können uns an nichts mehr halten: weder an Dinge noch an uns selber,' schreibt Flusser. 'Alle Erkenntnis und alle Werte sind Projektionen aus einem vorübergehenden Konsensus und Freiheit besteht darin, am Ausarbeiten des Konsensus und seinem Projizieren teilzunehmen. In flüchtigen Momenten der Einsicht beginnen wir uns aus Untertänigkeit ins Entwerfen aufzurichten, in vollem Bewußtsein der Tatsache, wie unbequem, gefährlich und wenig versprechend das Abenteuer ist, auf das wir uns einlassen müssen.'[ 10 ] Der niederländische Pavillon thematisiert die Künstlichkeit von Natur. Damit verweist er einerseits auf die tiefgreifenden Veränderung, in der wir uns befinden. Zugleich experimentiert er mit ihren Möglichkeiten und Implikationen, zeigt mögliche Szenarien auf. Er will dazu beitragen, dass das Entwerfen von Natur nicht Spezialisten überlassen bleibt, sondern zu einem gesellschaftlichen Projekt wird.
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Fussnoten :
[ 1 ] Vilém Flusser: Gesten, Versuch einer Phänomenologie, Bensheim/ Düsseldorf 1991, S. 171
[ 2 ] siehe John E. Smith, Biotechnology, Cambridge 1996, S. 2
[ 3 ] Kevin Kelley, a.a.O., S.391ff, Tom Ray: Evolution as Artist, in: C.Sommer, L.Mignonneau (Hg.): Art@Science, Wien 1998, S. 81ff.
[ 4 ] R. Langer und J. Vacanti: Künstlich gebildete Organe, in: Spektrum der Wissenschaft: Spezial 4, Schlüsseltechnologien, Heidelberg 1995, S. 80ff
[ 5 ] Kevin Kelly: Das Ende der Kontrolle, Bollmann 1997, S. 249ff
[ 6 ] Center Parcs Katalog 97/98 der Center Parcs GmbH, Köln
[ 7 ] In: Artificial Nature, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Deste Foundation for Contemporary Art, Athen 1990
[ 8 ] Vilém Flusser: Leben und Leben lassen, in: Spuren Nr. 24, Juli/ August 1988, S. 19ff.
[ 9 ] Kevin Kelly, a.a.O., S. 8ff
[ 10 ] Vilém Flusser: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, hg. v. Stefan Bollmann und Edith Flusser. Bensheim/ Düsseldorf, S. 24ff

Philipp Oswalt

erschienen in : Thesis, Wissenschaftliche Zeitung der Bauhaushochschule, 5. Heft | Weimar | 1998
Quelle : http://www.oswalt.de/de/text/txt/natur_p.html