Philipp Oswalt | 2001
 
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   Urbane Gerüchte

Unser heutiges Dasein ist ein Pendeln zwischen zwei Welten: Dem medialen Raum der Telematik einerseits, und der physischen Welt anderseits. Doch was ist das Verhältnis zwischen diesen Sphären? Es gibt die Vorstellung vom Cyberspace als einer autonomen Realität, eine - man denke nur an die ungelenken Cyberbrillen und Datenhandschuhe - recht unattraktive Vorstellung aus den achtziger Jahren. Die vielfältige Durchdringung beider Welten lässt sich auch nicht mit einer einseitigen Abhängigkeit beschreiben, der dem medialen Raum eine die physische Welt abbildende oder dienende Funktion zuweisst.

Etwa der Mauerfall in Berlin 1989: Er beruhte nicht auf einer bewussten Entscheidung von Politikern. Westliche Medien spitzten diffuse Äußerungen des ostdeutschen Regierungssprechers über eine Lockerung der Reisebeschränkungen zu und interpretierten sie als 'Grenzöffnung'. Neugierig geworden durch dieses mediale Gerücht, eilten die ersten Ostberliner zu den Grenzübergangstellen, um 'mal zu gucken, was passiert', und zogen mehr und mehr Neugierige mit sich. Die durch das Gerücht verbreitete Erwartungshaltung der sich akkumulierenden Menschenmasse machte schließlich das Ungeplante unvermeidlich: die Öffnung der ostdeutschen Grenze und damit das friedliche Ende des Kalten Krieges.

Diese Episode ist extremes Beispiel einer allgemeinen Tendenz: Mit der Atomisierung der Gesellschaft im Massenindividualismus und ihrer gleichzeitigen elektronischen Vernetzung hat sich der öffentliche Raum weitgehend in die Kommunikationsnetze von Fernsehen, Radio, Computer und Telefon verlagert. Von hier aus bricht er zuweilen in den realen Raum der Stadt ein. Kleine Ereignisse können sich dank elektronischer Verstärkung durch die Massenmedien zu gigantischen Ereignissen aufschaukeln. Die dematerialisierte Urbanität des Informationszeitalters entzieht sich einer baulichen Manifestation. Ob die Polenmärkte der späten 80er Jahre, die Blade Night, Christos Reichstagsverpackung oder die Love Parade: Die Massenereignisse des letzten Jahrzehnts in Berlin zeigen exemplarisch, wie der mediale Raum das Geschehen im realen Raum der Stadt beeinflusst, zwischen Selbstorganisation und Manipulation oszillierend.

Die Wechselwirkungen zwischen medialem und urbanem Raum können auch repressiven Charakter annehmen, wie die zunehmende Dominanz von sicherheitstechnischen Kriterien in stadträumlichen Planungen der letzten Jahre zeigt. In der Scheinwelt des Fernsehens hat sich seit dem Aufkommen der privaten Sender in den achtziger Jahren der Anteil der Nachrichten über Gewalt verdoppelt, während zugleich die Anzahl der schweren Verbrechen rückläufig war. Gleichwohl, mit der medialen Präsenz von Gewalt stieg die Angst vor Verbrechen und führte nicht zuletzt zum Bau von Gated Communities, der Videoüberwachung öffentlicher Plätze und der Allgegenwart von Sicherheitsdiensten.

Im Informationszeitalter erweist sich der Wert einer Information nicht an ihrer Faktizität, sondern an ihrer projektiven Qualität: welchen Stimulus kann sie auslösen, welche Entscheidungen und Handlungen beeinflussen. Hierbei kann gerade die Vagheit, die Zweifelhaftigkeit und die Differenz zum Realen sich als Vorteil erweisen. Das intensive Zusammenspiel von Real und Medial führt dabei zu neuen urbanen Phänomen jenseits der klassischen Kategorien von Städtebau und Architektur.


 
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